Priestertum zwischen Anspruch und Wirklichkeit

Da hilft nicht nur beten

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Betender Priester
Nachweis

Foto: kna/Harald Oppitz

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Zeit für Gott: Vielen jungen Priestern ist die eigene Spiritualität sehr wichtig.

Eine Studie zeigt: Die Erwartungen vieler junger Priester an ihren Beruf und die Erwartungen der Gemeinden an die Priester widersprechen sich. Pastoraltheologe Matthias Sellmann fordert, die Ausbildung der Seelsorger müsse sich ändern – damit sie und die Gläubigen zufriedener sind.

Matthias Sellmann klingt besorgt. Er hat eine Menge Zahlen zusammengetragen, und er findet, sie sehen nicht gut aus. Sellmann, der Leiter des Zentrums für angewandte Pastoralforschung in Bochum, hat im Auftrag der Deutschen Bischofskonferenz eine Studie erstellt. Er hat alle 847 Priester, die von 2010 bis 2021 geweiht wurden, für die Studie angefragt – eine repräsentative Stichprobe von 17,8 Prozent hat mitgemacht. Er wollte ergründen, was junge Seelsorger heute antreibt. Das Ergebnis, sagt er, sei „ein echtes Problem für den Arbeitgeber Kirche“.

Die Studie fragte etwa: Worauf sollte bei der Priesterausbildung besonderes Gewicht gelegt werden, damit sie den heutigen Verhältnissen entspricht? Die beliebtesten Antworten: eigene Persönlichkeitsentwicklung (71,7 Prozent) und Einführung in die eigene Spiritualität (63,2 Prozent). Deutlich seltener wurden genannt: Einführung in Menschenführung (52 Prozent), Zeit- und Selbstmanagement (51,3 Prozent), Kommunikations- und Konfliktmanagement (46,7 Prozent) und Einführung in die kirchliche Verwaltung (39,5 Prozent). 

Wozu das führt, zeigen weitere Zahlen: Nur 6,1 Prozent fühlten sich durch ihre Ausbildung praktisch sehr gut auf ihre Aufgabe als Priester vorbereitet, 22,3 Prozent hingegen schlecht und 5,4 Prozent ganz schlecht. Sellmann sagt, vielen Priestern seien Liturgie und Gottesdienst sehr wichtig, sie sähen sich als Männer Gottes und Gestalter heiliger Räume. Das sei total zu respektieren, aber es sei eben nur eine Seite des Priesterlebens. Mit ihrer Motivation liefen die Priester ins „offene Messer“ der Realität, die ja oft von Abbrüchen, Frust und Gemeindezusammenlegungen geprägt ist: „Das ist fast schon tragisch. Daran können Menschen kaputtgehen.“ Er kenne Priester, die mit sehr idealistischen Zielen begannen und nach fünf bis sieben Jahren am Ende waren. 

Sehnsucht nach Menschennähe

Viele Priester, sagt der Pastoraltheologe Sellmann, wollten Geistliche sein, aber nicht Chef und Manager. Dadurch drohe ihnen die Überforderung, denn die Gemeinden wünschten sich keinen individuellen Beter und Liturgen, sondern eine menschennahe Führungskraft, die vielfältige Rollen spielt: „Die Erwartungen der Priester an sich selbst und die Erwartungen der Gemeinde an die Priester klaffen krass auseinander.“

Matthias Sellmann
Viele Priester wollten Geistliche sein, aber nicht Chef und Manager, sagt der Pastoralthologe Matthias Sellmann. Foto:  Martin Steffen

Die aktiven Gemeindemitglieder, so Sellmann, erwarteten, dass Gottesdienste, Pfarrfeste und Kitas funktionieren. Die passiven Gemeindemitglieder erwarteten, dass das Pfarrbüro gut arbeitet und dass Taufen, Hochzeiten und Beerdigungen würdig, respektvoll und mit Inspiration gefeiert werden. Und sie erwarteten eine gute Diakonie. Die Mitarbeiter im Pastoralteam erwarteten eine professionelle Leitung. Das Bistum erwarte Ruhe, aber gerne auch mal Erfolgszahlen, ein Leuchtturmbeispiel, Austausch mit anderen Pfarrern, interessante Allianzen mit Bürgermeistern, Tourismusexperten oder Unternehmern. Und für je mehr Gemeinden der Priester verantwortlich sei, desto mehr unterschiedliche Erwartungen müsse er bedienen.

Priester müssten heute „Organisationen von der Größe mittelständischer Unternehmen leiten können, mit vielen Menschen, vielen Gebäuden, viel Territorium, viel Geld“, betont Sellmann. Das müsse in der Ausbildung eine größere Rolle spielen als bisher. Die Priester müssten Zeitmanagement, Mitarbeiterführung, Ehrenamtsmanagement oder die Zusammenarbeit mit PR-Agenturen lernen. Und: „Sie sollten diese Kompetenzen als Teil ihrer geistlichen Identität begreifen können, nicht als eigentlich priesterfremde Pflichten.“ Denn, so sagt Sellmann: „Christus repräsentieren heißt nicht einfach nur: nett und geistlich sein. Sondern auch: eine Gemeinde leiten und managen.“ Wenn ein Priester nicht leiten könne, dann habe nicht nur er ein Problem, sondern auch alle um ihn herum.

„Mehr Luft und mehr Farbe“

Die Kirche müsse auf die Ergebnisse der Studie reagieren, sagt der Pastoraltheologe, sie habe als Arbeitgeberin eine Verantwortung. Sie müsse den künftigen Priestern zeigen und vermitteln, was auf sie zukommt. Es habe sich in der Ausbildung schon viel getan, aber noch nicht genug. Michael Gerber, der Vorsitzende der Kommission für Geistliche Berufe und Kirchliche Dienste der Bischofskonferenz, und Dirk Gärtner, der Vorsitzende der Regentenkonferenz, sähen den Ernst der Lage, sagt Sellmann: „Sie relativieren nichts. Das gibt mir Hoffnung, dass nun auch etwas passiert.“

Er wünscht sich, dass die Kirche für den Priesterberuf künftig anders wirbt. „Sie sollte den Priester in Kampagnen nicht immer nur am Altar zeigen“, sagt Sellmann. „Sie sollte ihn auch zeigen, wie er vor dem Kino steht, wie er in einer Stadtratssitzung redet, wie er auf dem Kiez mit einem Punk spricht, wie er bei einem Kinderfest mitlacht und mitsingt. Dann würden man merken: Das ist ein Mensch unter Menschen.“ Und wer mit diesem Bild in die Ausbildung einsteigt, hätte ein realistisches Bild im Kopf.

Seine Studie, stellt Sellmann klar, solle „nicht entlarven, was Priester alles nicht können“. Sie solle helfen, das Verhältnis zwischen Priestern und Gemeinden zu verbessern – und auch andere Priestertypen zu finden: „Ich wünsche mir, dass viel mehr Luft ins System kommt und mehr Farbe.“ 

Und was ist, wenn heute eine Gemeinde und ihr Priester merken, dass ihre Wünsche nicht zueinander passen? Sellmann sagt: „Beide Seiten sollten sagen, welche Erwartungen sie haben, was sie stört, wo sie überfordert sind. Es würde viel helfen, sowas mal auszusprechen. Das passiert zu selten.“

Zur Person:
Matthias Sellmann (58) ist Pastoraltheologe. Er ist Gründer und Leiter des Zentrums für angewandte Pastoralforschung in Bochum.

 

Andreas Lesch