Fehler der Politik in der Pandemie
Dabrock: "Es muss alles auf den Tisch"
Die Politik hat in der Pandemie schwere Fehler gemacht. Der Theologe Peter Dabrock erklärt, wie sie aufgearbeitet werden können – und was passieren muss, damit die Bürgerinnen und Bürger wieder Vertrauen fassen.
Von Andreas Lesch
Wir würden einander noch viel verzeihen müssen, hat Bundesgesundheitsminister Jens Spahn im April 2020 gesagt. Das klang damals, zu Beginn der Corona-Pandemie, weise, fast prophetisch. Spahn ahnte, dass die Politik viele folgenreiche Entscheidungen würde treffen müssen – in einer Extremsituation, die für alle neu war. Dass Fehler passieren würden, erschien unvermeidbar.
Mittlerweile ist die dritte Welle gebrochen und das Schlimmste wohl überstanden; da lohnt es sich, an Spahns Satz zu erinnern und zu fragen: Wie kann das gehen, dass die Bürger der Politik ihre Fehler verzeihen? Wie kann neues Vertrauen in die Politik wachsen, das für unsere Demokratie so unverzichtbar ist?
Der Theologe Peter Dabrock, ehemaliger Vorsitzender des Deutschen Ethikrates, sagt: „Es darf nicht sein, dass sich die Politik eine Art Persilschein für ihre Fehler in der Pandemie ausstellt. Es muss alles auf den Tisch.“ Für ihn sind „viele Dinge passiert, die Menschen kaum verzeihen können“. Mehr als 89 000 Menschen sind in Deutschland an Corona gestorben. Und, so betont Dabrock: „Fast drei Viertel der Todesopfer fallen in die dritte Welle, in der die Politik schwere Fehler gemacht hat und in der die Pandemie-Bekämpfung weitaus effektiver hätte ausfallen können.“ Die Politik hörte nicht auf die Wissenschaftler, die einen konsequenten Lockdown forderten und vor vorschnellen Öffnungen warnten. So stiegen die Infektions- und Todeszahlen. Können die Angehörigen der Toten der Politik verzeihen?
Und können Eltern verzeihen, deren Töchter und Söhne fünf Monate lang nicht zur Schule gehen durften – und die erlebten, wie Kinder dauernd ignoriert wurden? Noch immer gibt es in kaum einer Schule Luftfilter, das nur als Beispiel. Dabrock sagt: „Ich verzweifle noch immer daran, dass Politik durch nahezu alle regierenden Parteien in Bund und Ländern Kinder und Familien links liegen gelassen haben.“
Was also tun? Dabrock glaubt, ein Untersuchungssauschuss oder eine Enquete-Kommission wären zu wenig, um die Politik mit der Zivilgesellschaft über die Pandemie ins Gespräch zu bringen: „Dafür ist das Politikversagen der vergangenen Monate zu groß. Wir brauchen dafür eine Art Wahrheits- und Versöhnungskommission.“ Sie könnte, so glaubt er, „ein Weg sein, wie wir zwar beschädigt, aber vielleicht doch auch versöhnt aus der Pandemie finden“.
„Wir können jetzt nicht einfach so weitermachen“
In einer Wahrheitskommission wäre es denkbar, dass Bürger Entscheidungen hinterfragen und Frust ablassen – und Politiker sich erklären, Fehler zugeben, Reue zeigen. „Die Pandemie und ihre Folgen sind die größte nationale Katastrophe seit Beginn der Bundesrepublik“, sagt Dabrock. „Deshalb steht eine politische und moralische Generalinventur an.“ Die Pandemie hat massive Probleme offengelegt und verstärkt: Deutschland hat sein Gesundheitssystem heruntergespart, die Digitalisierung verschlafen, Selbstständige vernachlässigt. Dabrock sagt: „Wir können jetzt nicht einfach so weitermachen. Das würde die Gesellschaft zur Spaltung bringen.“ Und es wäre „geradezu eine Verhöhnung der Opfer, der Toten wie der Lebenden“.