Wie liebe ich meinen Feind?

Der lange Weg zur Feindesliebe

Jesus sagt, wir sollen unseren Nächsten lieben. Das ist manchmal nicht leicht – aber immer irgendwie machbar. Er sagt auch, wir sollen unsere Feinde lieben. Dieses Gebot fordert uns wie kein anderes. Wie soll das gehen? Wie können wir das lernen? Und welche Rolle spielt dabei Gott?

Frederike Herrlich hat ihren Sohn verloren. Er ist von dem islamistischen Terroristen Anis Amri ermordet worden, er zählt zu den Opfern des Attentats vom Berliner Breitscheidplatz im Dezember 2016. Und doch sagt Frederike Herrlich: „Der Attentäter ist für mich kein Feind.“ 

Die meisten Menschen müssen den Horror, den Frederike Herrlich erlebt hat, zum Glück nicht durchstehen. Aber wir alle treffen irgendwann womöglich auf Menschen, die wir als Feinde ansehen könnten: auf Nachbarn, die über uns lästern; auf Kollegen, die uns mobben; oder auf Freunde, die uns belügen. Wie kann es uns gelingen, diese Menschen nicht zu hassen, sondern zu lieben? Wie können wir Feindesliebe lernen?

Lucia Zimmer stellt erst mal klar: „Der Weg zur Feindesliebe ist kein glatter Weg, überhaupt nicht. Er ist steinig, und er braucht Zeit. Er kann Jahre dauern.“ Zimmer ist geistliche Begleiterin im Bistum Osnabrück, und sie ist überzeugt davon, dass der Weg zur Feindesliebe keine logische Abfolge von Schritten ist. Keine Methode, die man in einem Handbuch nachlesen kann. Die Gabe, seinen Feind zu lieben, könne ein Mensch letztlich nur von Gott erbitten, sagt Zimmer: „Weil Feindesliebe im Grunde menschlich fast unmöglich ist.“

Im Gespräch mit Gott sei es wichtig, ehrlich zu sein, betont die geistliche Begleiterin. Beten, das bedeute auch, Gott anzuvertrauen, wie mein Feind mich bedrückt, wie er mich wütend macht und meine Rachegelüste weckt. „Nur wenn wir unsere Wunden offenlegen, kann Gott sie auch heilen“, sagt Zimmer. Wer seine Aggressionen benennt, der nimmt ihnen schon ein wenig von ihrer Kraft. Wer sie dagegen unterdrückt, der hat sie weiter in sich. „Und irgendwann haben die Aggressionen dann mich“, sagt Zimmer. „Dann wird alles viel schlimmer.“ Das Gebot der Feindesliebe ist keine Norm, die jeder jederzeit hundertprozentig zu erfüllen hat. Sie ist eher ein Ziel, dem wir uns nähern können.

Wer will, kann auf dem Weg zu diesem Ziel allein für sich beten. Er kann aber auch eine geistliche Begleitung suchen. Oder einen anderen Berater, der ihm zeigt, wie er mit dem Konflikt umgehen kann. Und er kann prüfen: Wie ist diese Feindschaft eigentlich entstanden? Habe auch ich einen Anteil daran?


Wenn wir nicht vorankommen, ist die Zeit noch nicht reif

Mag sein, dass wir trotz aller Bemühungen nicht vorankommen. Dass wir uns dem Zustand der Feindesliebe nicht nähern. „Dann ist das erst mal so. Dann ist die Zeit noch nicht reif“, sagt Zimmer. Also: abwarten, geduldig sein. „Gebete sind keine Zaubermittel.“ Überhaupt, seinen Feind zu lieben, das muss nicht heißen, ihm um den Hals zu fallen. Es kann auch heißen: auf Rache und Vergeltung zu verzichten. Oder einfach: sich vom anderen fernzuhalten.

Feindesliebe wirkt, davon ist Zimmer überzeugt. Sie verändert den Menschen und seine Umgebung: „Weil jemand, der nicht mehr vom Hass zerfressen ist, eine andere Ausstrahlung hat.“ Und weil diese Ausstrahlung guttut. Ihm selbst. Und den anderen auch.

Von Andreas Lesch