"Elementarteile" – eine Ausstellung im Sprengel Museum Hannover

Der verlorene Sohn im Exil

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In der Ausstellung „Elementarteile“ im Sprengel Museum Hannover geht es um Kunst, um den Menschen und manchmal auch um Glaubensfragen.


Der Verlorene Sohn wie ihn Max Beckmann 1949 auf die Leinwand brachte: als unglücklichen Prasser.

Eine leicht geschwungene Stele aus Holz, an deren oberen Ende ein Oval an die leichte Kopfneigung erinnert, die in der Kunstgeschichte charakteristisch ist für die Mariendarstellung. Auch die Farben Blau und Rot am Sockel und an der stilisierten Kopfform knüpfen an diese Tradition an, doch die Bezüge erschließen sich erst auf den zweiten Blick. Die „Madonna“ des hannoverschen Avantgardekünstlers Kurt Schwitters von 1940/41 – damals hatten er und seine Familie Deutschland auf der Flucht vor den Nationalsozialisten längst verlassen – ist Ausdruck für einen neuen Umgang mit Maria. Die Gottesmutter wird hier nicht verklärt oder idealisiert, vielmehr steht sie für einen Neuaufbruch, ähnlich wie in der zeitgenössischen Theologie. „Es gibt von keiner biblischen Figur so viele Facetten wie von Maria. Das fängt mit einer verklärten Himmelskönigin an, man kann aber auch eine junge Revolutionärin in Maria sehen“, sagt die katholische Theologin Martine Kreidler-Kos. Maria hat viele Gesichter.

Kurt Schwitters hat sich intensiv mit der Darstellung von Maria und der Madonnen-Ikonografie der Alten Meister wie Raffael beschäftigt. Zunächst in Ölgemälden, es gibt eine Reihe madonnenhaft wirkender Porträts seiner Ehefrau Helma mit geneigtem Kopf und in sich gekehrt. Diese Bilder entstanden kurz nach dem Tod des ältesten Sohnes Gerd, der 1916 wenige Tage nach seiner Geburt verstarb.
 


1963 schuf Hans Arp aus farbigen Glas „La Famille“.

Die Arbeiten aus dieser Zeit erinnern an Andachtsbilder mit der weinenden Gottesmutter. Später dann entstanden Collagen und experimentelle Arbeiten. Der Künstler befragt Maria mit seinen Mitteln, er sieht indes allein in der Kunst die befreiende Kraft. Die Moderne schafft sich eigene Wirklichkeiten, Farben, Flächen und Formen lösen sich bewusst von dem, was real zu sehen ist.

Wassily Kandinsky, der Künstler und Zeitgenosse von Kurt Schwitters, spricht „über das Geistige in der Kunst“, ihm und anderen Kunstschaffenden im frühen 20. Jahrhunderts geht es um die vollständige Loslösung vom Vorbild der Natur.

In der zehnteiligen Ausstellung „Elementarteile“ im Neubau des Sprengel Museums in Hannover ist eine Reihe dieser Werke zu sehen, ihnen ist ein eigenes Kapitel unter der Überschrift „Wirklichkeiten“ gewidmet. Neben Arbeiten von Kurt Schwitters sind Werke von Pablo Picasso, Oskar Schlemmer oder Hans Arp zu sehen.

Anklänge an biblische Bildwelten

Dazu schreibt Museumsdirektor Reinhard Spieler: „Während des gesamten Mittelalters im christlichen Europa war eine religiöse, himmlische Welt die Bezugsgröße der Kunst, die erst mit dem Beginn der Neuzeit von der sichtbaren Realität abgelöst wurde“. Seit der Erfindung der Zentralperspektive in der Renaissance bestimmen die Künstler selbst, aus welcher Blickrichtung sie den Raum in ihrem Werk gestalten. Mit Beginn der klassischen Moderne verändert sich die künstlerische Sicht auf die Welt noch einmal grundlegend, schreibt der Kunsthistoriker Spieler: „Seither hat die Kunst die Wahl, auf welche Wirklichkeiten sie sich beziehen möchte. Zur sichtbaren und zu den abstrakten und philosophischen Welten sind auch noch die medialen und virtuellen Realitäten hinzugekommen.“

Geschichten zu erzählen, gehört zum Wesenskern von Kunst, dabei reicht das Themenspektrum von der religiösen Ikonografie über das Zeitgeschehen bis hin zu persönlichen Motiven. Und so finden sich in der Ausstellung teils auch Anklänge an biblische Bildwelten und Traditionen. Etwa in Marc Chagalls Gemälde „L ’étable“ („Der Stall“). Dort greift der russisch-jüdische Künstler die biblische Geschichte von Christi Geburt auf, die blauen Farbtöne im Bild stehen für Transzendenz und symbolisieren das biblische Heilsgeschehen. Der Expressionist Adolf Hölzel setzt sich ebenfalls mit biblischen Themen auseinander, etwa in seinem Gemälde „Anbetung“.

Nach dem Weltkrieg Rückgriff auf christliche Motive

„Unter dem Eindruck des Ersten Weltkriegs erlebten christliche Bildmotive im 20. Jahrhundert ein regelrechtes Revival. Vor allem die Künstler des Expressionismus wie Otto Dix, Adolf Hölzel, Emil Nolde und viele andere suchten und fanden in der christlichen Ikonografie Bilder für Leid und Schmerz, die der Lebenserfahrung so vieler Menschen im Krieg entsprachen“, erläutert Reinhard Spieler und verweist dabei auch auf Werke, die in anderen Museen zu sehen sind. „Die eindrucksvollsten Beispiele sind vielleicht Max Beckmanns unvollendete „Auferstehung“ von 1916–18 in der Staatsgalerie Stuttgart und „Kreuzabnahme“ von 1917 im Museum of Modern Art in New York, die spätmittelalterliche Bildmittel, etwa von Matthias Grünewalds berühmten „Isenheimer Altar“, in die Bildsprache der Moderne übertragen.“
 


Aufs Wesentliche reduziert: Kurt Schwitters „Madonna“ aus den Jahren 1941/42.

Wie gehen wir mit Endlichkeit und Tod um? In der christlichen Tradition ist die Memento-Mori-Symbolik fest verankert, in den Klöstern des Mittelalters entwickelte sich eine eigene Bildsprache: Das Skelett und der Totenschädel wurden zu Zeichen der Vergänglichkeit. Auf diese Symbolsprache greift etwa auch der belgische Künstler James Ensor um die Wende zum 20. Jahrhundert in seinem Gemälde „Crânes fleuris“ („Totenköpfe mit Blumen“) zurück, eine moderne Auseinandersetzung mit dem Mysterium des Todes.

Auch wenn Kunst und Kirche ähnlich Fragen an das Leben stellen, fallen die Antworten oft unterschiedlich aus. So nimmt etwa der Künstler Max Beckmann mit seinem Werk „Der verlorene Sohn“ ein biblisches Motiv auf, allerdings interpretiert er die Geschichte vom verlorenen Sohn aus dem Lukas-Evangelium anders als üblich. Den Sohn stellt er nicht als reuemütigen Rückkehrer dar, er zeigt ihn vielmehr im Augenblick des zügellosen Feierns und Verprassens. Doch der Sohn im Zentrum dieser bizarren Szenerie ist traurig und in sich gekehrt. Ein Verlorener, einsam und isoliert. Beckmann, ebenfalls im Exil wie viele Künstler des 20. Jahrhunderts, verarbeitet hier die eigenen Erfahrungen in den USA. Das Bild entstand 1949, ein Jahr später verstarb der Künstler.

Familie als fragiles Beziehungsgeflecht

Väter, Söhne, Eltern, Kinder, Fremdheit und Vertrauen: Die Familie spielt in allen Religionen und Traditionen eine zentrale Rolle, ein Thema, das auch in der Kunst immer wieder auftaucht. Nicht als heilige, auch nicht als heile Familie, sondern als ein fragiles Beziehungsgeflecht. Hans Arp hat Anfang der 1960er-Jahre eine Skulptur aus farbigem Glas auf einem Holzfundament geschaffen, „La Famille“, eine Art moderne Familienaufstellung mit vier Personen. Wie stehen sie zueinander, wer steht hinter wem, was passiert, wenn Menschen sich verändern?  Mit Familienbildern setzt sich auch die in Südafrika geborene Künstlerin Marlene Dumas in ihrem Gemälde „Family Photos“ von 2010 auseinander. Ihr Hauptmotiv: Die menschliche Gestalt.

Doch welche Bilder machen wir uns von anderen Menschen? Im Schlusskapitel der Ausstellung „Elementarteile“ geht es um Gesichter, um die Kunst des Por­träts im 20. Jahrhundert. Hier eröffnet die Fotografie noch einmal andere Möglichkeiten von Nähe und Distanz. Beeindruckend sind oftmals jene Formen, in denen sich Malerei und Fotokunst überlagern, etwa im Werk von Gerhard Richter oder auch in den fotorealistischen Arbeiten von Franz Gertsch – gemalte Momentaufnahmen, in denen die unterschiedlichen Formen der Wahrnehmung sichtbar werden. Für Gerhard Richter, der vor einigen Jahren das abstrakte Fenster im Kölner Dom gestaltet hat, ist Kunst auch eine Form der Gottsuche.

Das Sprengel Museum in Hannover ist dienstags 10 bis 20 Uhr, Mittwoch bis Sonntag 10 bis 18 Uhr geöffnet. Montags geschlossen, freitags freier Eintritt.

Karin Dzionara