Verlangt der christliche Glaube „Märtyrer der Corona-Krise“?
Die Heiligkeit von nebenan
Verlangt der christliche Glaube „Märtyrer der Corona-Krise“? Martin W. Ramb schaut auf den seliggesprochenen Pater Richard Henkes und die vielen Heiligen von heute, stille Heldinnen und Helden, von denen wir nichts wissen. Von Martin W. Ramb.
Im vergangenen Jahr wurde der Pallottinerpater Richard Henkes während eines feierlichen Gottesdienstes im Limburger Dom als Märtyrer der Barmherzigkeit seliggesprochen. Zur Erinnerung: Richard Henkes wurde 1943 wegen wiederholt regimekritischer Predigten verhaftet und in das KZ Dachau deportiert, wo er sich nach Ausbruch einer Flecktyphus-Epidemie freiwillig für die Pflege kranker Häftlinge meldete. Trotz Impfung infizierte er sich mit Typhus und starb innerhalb von fünf Tagen bei hohem Fieber am 22. Februar 1945 an den Folgen dieser bakteriellen Erkrankung.
Richard Henkes versah seinen zweimonatigen Dienst an den Schwerstkranken in der Hoffnung, dass er diese bedrohliche Situation überleben und das Lager wieder unversehrt verlassen wird. Er lebte in dieser Zeit vollständig abgeschlossen und isoliert von den anderen inhaftierten Priestern in Quarantäne mit den Typhuskranken. Seine von der Hingabe an die Menschen geprägte Spiritualität und sein unerschütterliches Gottvertrauen ließen ihn seine Krankenpflege als Gottesdienst und als Konsequenz seiner Berufung zum Priester bis zuletzt begreifen.
75 Jahre später riskieren viele Ärzte und Ärztinnen, Krankenpflegerinnen und Krankenpfleger, Seelsorger und Seelsorgerinnen in Kliniken, Seniorenheimen und Arztpraxen in aller Welt ihr Leben bei der Pflege und in der Begleitung von an Corona infizierten Menschen.
Medienberichten zufolge sind allein in Italien inzwischen rund 120 Ärzte/innen und 30 Krankenpfleger/innen am Covid-19 Virus verstorben. Einige der verstorbenen Ärzte/innen hatten sich schon im Ruhestand befunden und waren dem Aufruf gefolgt, in der Corona-Krise wieder aktiv zu werden. Auch etwa 100 Priester starben bis heute in Italien an den Folgen des heimtückischen Virus. Viele von ihnen gingen bis zuletzt ihrem Dienst nach und folgten der Bitte des Papstes, den Sterbenden beizustehen und ihnen die Kommunion zu bringen.
Hohe Aufmerksamkeit erfuhr die Nachricht, dass ein an Covid-19 erkrankter 72-jähriger Priester starb, nachdem er sein Beatmungsgerät aus Nächstenliebe einem Jüngeren überlassen hatte. Unter dem Eindruck der globalen Pandemie und in ihrer Folge ungezählter solidarischer Hilfsaktionen erkennen wir, dass Heiligkeit viele Gesichter besitzen kann und viele Menschen zur Heiligkeit berufen sind.
Vielleicht leuchtet in der demütigen, stillen und hingebungsvollen Pflege der Typhusinfizierten durch Pater Henkes eine universale Wahrheit auf, die wir besonders heute im Umgang mit der globalen Pandemie neu begreifen: Wahre Heiligkeit wirkt im Verborgenen, sie prahlt nicht mit ihren Verdiensten, sondern sie dient dem Nächsten in seiner existentiellen Not, sie steht ihm bei, auch wenn ihr Tun vergeblich zu sein scheint, sie fragt nicht nach Konfession oder Religion, sie überschreitet Grenzen des Durchschnittlichen und durchkreuzt die Logik des Nützlichen.
Wir sind gerade teilnehmende Beobachter und zugleich Zeugen einer auf vielfältige Weise zu erlebenden „Heiligkeit von nebenan“ (Papst Franziskus), die von kleinen Gesten der Solidarität bis hin zum aufopferungsvollen Dienst in den Intensivstationen reichen kann. Nicht jeder muss gleich in seinem Einsatz sein Leben hingeben, aber wie viele von uns gehen über ihr bislang vorstellbares Limit? Wir sind Zeugen einer nach wie vor zur Solidarität und Menschlichkeit in einem ungeahnten Ausmaß fähigen Gesellschaft, die ihre Alten nicht einfach sterben lässt. Jedes Leben zählt. Vielleicht ist gerade der Arzt aus Wuhan, der die Welt vor der tödlichen Wahrheit über das Virus warnen wollte, dessen Erkenntnisse aber von den chinesischen Behörden viel zu lange vertuscht wurden und der dann selbst an Covid-19 starb, ein chinesischer Richard Henkes unserer Tage: „Und wenn die Wahrheit mich vernichtet ...“
Diese zur Zeit weltweit erfahrbare horizontale Heiligkeit zeigt uns dabei zugleich ein Hoffnungsund Zukunftsbild von Kirche: eine Kirche, die mit viel Fantasie und auf ungewöhnlichen Wegen an die Ränder und die Grenzen der menschlichen Existenz geht und dabei den Weg in die Tiefe ihrer Berufung findet, die im Wort „Barmherzigkeit“ ihren Ausdruck gefunden hat. In nur wenigen Wochen hat sich die Welt in ein Feldlazarett gewandelt, und es wird für jedermann deutlich, worin die viel beschworene „Systemrelevanz“ der Kirche besteht: Kirche ist für die Menschen da oder, um mit Johannes Paul II. zu sprechen: „Der Mensch ist der erste Weg der Kirche“ (Enzyklika Redemptor Hominis).