Interview mit Michael Wüstenberg

„Die Vision, zu retten“

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Michael Wüstenberg, ehemaliger Bischof von Aliwal Nord in Südafrika, hat das Rettungsschiff „Sea-Eye 4“ auf dem Weg von Rostock ins Mittelmeer begleitet. In Spanien jetzt fertig ausgerüstet, stach es am letzten Samstag  zu seiner ersten Mission in See, um die Flagge der Menschlichkeit zu zeigen.


 


Michael Wüstenberg auf der „Sea-Eye 4“: Der emeritierte
südafrikanische und in Hamburg aufgewachsene Bischof
ist den Menschen auf dem schwarzen Kontinent noch
immer verbunden. Er setzt sich dafür ein, Migranten
menschenwürdig zu behandeln.

Warum sind Sie mitgefahren?

Schon im letzten Jahr wollte ich bei einer so genannten Rettungsmission mitfahren, was leider durch Corona nicht geklappt hat. Jetzt hatte ich die Gelegenheit zumindest diese Überführungsfahrt mitzumachen und dabei zu helfen, die „Sea-Eye 4“ auf ihren Einsatz vorzubereiten.

Aber die Fahrt ging ja nicht gleich los?

Nein, anderthalb Wochen wurden erst noch in Warnemünde im Hafen am Schiff gearbeitet. Dabei habe ich viele Helfer, manche würden sagen aus der alternativen Szene, kennengelernt, die zwar nicht mit dem Schiff auf eine Rettungsmission fahren können, aber hier auf dem Land mit Herzblut ihre Talente dafür einsetzen, Menschenleben zu retten.

Wie war das für Sie als Bischof auf dem Schiff?

Ein junger Mann aus der Crew hat mich gefragt, wie er mich ansprechen solle. Da habe ich geantwortet, ich bin einer von euch, ich bin Michael. Denn es war an Bord des Schiffes üblich, sich zu duzen. Ich habe mich in dieser international zusammengewürfelten Gemeinschaft sehr wohl gefühlt. Und die zwei Wochen auf See habe ich genossen, keine Maske, Corona war nie ein Thema, alle negativ, wir haben in einer Blase gelebt. Und wir hatten ein gemeinsames Ziel vor Augen.

Sie haben Menschen getroffen, die bereits mehrfach bei Rettungsaktionen dabei waren. Was haben die berichtet?

Sie haben Schlimmes erlebt. Eine Helferin aus Paraguay hat davon berichtet, dass sie ein Kind retten konnten und die Mutter vor ihren Augen im Mittelmeer versunken ist. Ein Crewmitglied erzählte von Fällen, wo sie zu spät kamen und keinen mehr retten konnten. Jemand hat von der Geburt eines Kindes an Bord berichtet, wo man sich bei uns zuhaus drüber aufregt, dass sich eine Frau in diesem Zustand überhaupt auf ein Rettungsboot begibt. Aber man muss sich vorstellen, dass diese Menschen zum Teil Jahre auf der Flucht sind und die Frauen oft als Freiwild betrachtet werden, unterwegs oder in den Flüchtlingslagern in Libyen vergewaltigt werden. Das Resultat sind hochschwangere Frauen oder Mütter mit kleinen Kindern in den Rettungsbooten.

Wie gehen Helfer und Crew mit diesem Erlebten um?

Sie bearbeiten es durch Vor- und Nachbereitung. Und die Sprache, die Wortwahl ist ihnen wichtig. An Bord werden zum Beispiel bestimmte Wörter nicht benutzt. Es gibt zum Beispiel keine Flüchtlinge, es gibt nur Gäste. Alle haben immer nur von unseren Gästen gesprochen und von der Gästeküche, die noch während der Überfahrt fertiggestellt wurde. Das hat was mit Respekt, mit Achtung, mit Menschenwürde zu tun. Und alle werden an Bord respektvoll behandelt. Nach dem, was viele Gäste unterwegs und in den Lagern erlebt haben, ist es oft das erste Mal, dass sie wieder Menschlichkeit erfahren, dass ihnen Menschen wieder menschlich begegnen.
 


„Auch ich konnte mich mit meinen geringen handwerklichen
Kenntnissen nützlich machen. Bohren und Streichen gehörten
zu meinen Hauptaufgaben auf dem Schiff“, sagt Bischof Michael.

Was mir bei den Helferinnen und Helfern an Bord aufgefallen ist: Sie alle eint die Vision, zu retten. Da spielt es keine Rolle, ob sie als Handwerker nur bis Spanien an Bord waren oder jetzt mit der Besatzung und anderen Helfern, die erst kurz vor dem Missionsstart am letzten Samstag an Bord kamen, nun im Mittelmeer unterwegs sind, um Menschen zu retten.  Sie werden getrieben, angetrieben von Menschlichkeit. Irgendwie schwebt da tatsächlich der Geist Gottes über dem chao­tischen Wasser, wie es im Buch Genesis gesehen wird.

Wie war das Leben an Bord?

Tagsüber haben wir gearbeitet und das Schiff für seine Mission vorbereitet. Auch ich konnte mich mit meinen geringen handwerklichen Kenntnissen nützlich machen. Bohren und Streichen gehörten zu meinen Hauptaufgaben auf dem Schiff. Daneben war es sehr ruhig an Bord. Ich habe viele gute Gespräche geführt, aber auch die Weite des Meeres auf mich wirken lassen und gelesen. Dabei habe ich mich intensiv mit der Flüchtlingsproblematik beschäftigt, habe viel über die Zusammenhänge von Flucht und Wohlstand nachgedacht.

Bei uns wird gerne abfällig von Wirtschaftsflüchtlingen gesprochen – Krieg als Grund wird gerade noch akzeptiert –, dabei handelt es sich um Armutsmigranten. Sie fliehen vor einer Armut, die ihren Ursprung in Europa hat, bei den ehemaligen Kolonialmächten. Und noch heute werden in Afrika viele Länder und ihre Bewohner ausgebeutet, weil sie Rohstoffe besitzen, die wir für unseren Wohlstand brauchen. Eines der Resultate ist, dass das Mittelmeer zu einem riesigen Grab geworden ist.
 

War das Ihre letzte Fahrt auf einem Rettungsschiff?

Ganz im Gegenteil. So wie ich es ursprünglich vorhatte, möchte ich weiterhin auf einer Rettungsmission mitfahren und mithelfen. Ich warte auf einen Termin.

Interview: Edmund Deppe