Brieffreundschaft aus dem Knast

"Diese Briefe können einem den Tag retten"

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eine Frauenhand schreibt einen Brief
Nachweis

Foto: kna/Mabel-Mara Platz

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Hallo, wie geht es dir? Die Brieffreundschaften sind für die Inhaftierten ein wichtiger Kontakt zur Außenwelt.

Der Strafvollzug in Deutschland setzt eher auf Isolation. Ein Verein will mit Brieffreundschaften den Kontakt "nach draußen" fördern. Ein Häftling und seine Brieffreundin erzählen.

Herausstechen wollte Tom Berger, der eigentlich anders heißt, mit seinem Inserat. Nicht so verzweifelt wirken wie einige der anderen Inhaftierten auf der Suche nach einer Brieffreundschaft, sagt er. Deshalb habe er keines der Musterbilder genommen - einen Katzen- oder Hundekopf etwa - sondern sein Profilbild selbst gezeichnet: einen Totenkopf. Beim Feld für das gewünschte Geschlecht des Gegenübers trug Berger ein: egal. Er sei auf der Suche nach einer langfristigen Brieffreundschaft gewesen - und dabei offen für alles, erzählt er am Telefon.

Der Häftling sitzt seit mehreren Jahren seine Strafe in der JVA Cottbus ab. "Das Leben draußen friert ein an dem Tag deiner Verhaftung", sagt der gelernte Handwerker. Von einer Brieffreundschaft erhoffte sich Berger nicht nur Abwechslung zum bedrückenden Haftalltag und frischen Input. Es sei ihm auch darum gegangen, Menschen draußen zu vermitteln, wie es "hier drinnen" wirklich sei und mit Vorurteilen über "die" Gefangenen aufzuräumen. Als er das sagt, betont er das Wort.

Mabel-Mara Platz fällt sein Inserat positiv auf: "Es war für mich ausschlaggebend, dass da einer nicht einfach 'ne Perle sucht", erzählt die 30-Jährige. Sie ist verheiratet und hat ein Kind, an etwas Romantischem ist sie nicht interessiert. Was zudem ihre Aufmerksamkeit erregt: Tom Berger schreibt, er arbeite an seiner Autobiografie. Schreiben ist auch eines ihrer Hobbys. "Da hab ich gedacht: Das passt doch super, dann können wir uns vielleicht gegenseitig unterstützen, Texte schicken und Tipps geben."

Kritik an Haftbedingungen

Was die beiden außerdem teilen, ist eine kritische Auseinandersetzung mit dem Strafvollzug in Deutschland. Tom Berger findet es unverhältnismäßig, dass jemand, der etwa ohne Führerschein gefahren ist, mehrere Monate eine Geldstrafe von vielleicht 10 Euro am Tag absitzen müsse, den Steuerzahler aber zwischen 100 und 200 Euro am Tag koste. Durch die Haft würden viele Menschen eher noch gefährlicher, da durch schlechte Bedingungen bei vielen Zorn und Verbitterung entstünden, findet er.

Platz interessiert sich schon seit ihrer Jugend für das Thema Haft: Als 16-Jährige hält sie ein Referat über die Todesstrafe in den USA im Englisch-Unterricht. Dies lässt sie nicht mehr los: "Was kann man dagegen vielleicht tun, auch hier in Deutschland?", habe sie sich gefragt. Auf der Suche nach Antworten stößt sie auf einen US-amerikanischen Verein, der Brieffreundschaften mit Gefangenen vermittelt, die im Todestrakt sitzen. So beginnen ihre ersten Kontakte mit verurteilten Insassen.

Seitdem setzt sie sich für die Rechte und das Wohlergehen Gefangener ein, wie sie erzählt, nicht nur durch diverse Brieffreundschaften. Neben ihrem Beruf als Coach ist sie ehrenamtlich kommunalpolitisch auch im Justizvollzugsbeirat aktiv sowie in der JVA Gelsenkirchen, wo sie einen Kochkurs für Insassinnen leitet und männliche Insassen ohne Angehörige betreut.

Studie: Außenkontakt in der Regel positiv

Mabel-Mara Platz
Engagiert sich seit einigen Jahren für Inhaftierte: Mabel-Mara Platz
Foto: kna/Jeff-Peter Nichulski

Dabei heißt es im deutschen Strafvollzugsgesetz: Gefangene sollen im Laufe des Vollzugs einer Freiheitsstrafe fähig werden, künftig in sozialer Verantwortung ein Leben ohne Straftaten zu führen. Dass zwischenmenschliche Beziehungen ein wichtiger Faktor für die erfolgreiche Resozialisierung von Inhaftierten sind, entspricht seit langem dem Stand der Forschung. Eine Studie der Freien Universität Berlin von 2019 ergab zudem, dass sich Kontakt nach außen für die Resozialisierung von Gefangenen in der Regel positiv auswirkt.

Resozialisierung ist eines der Anliegen des Vereins Jail Mail, der die Brieffreundschaften organisiert. Platz' erster Brief an Tom Berger ging durch die Hand von Lea Stolzenburg, die den Verein ehrenamtlich managt. Die 24-jährige Soziologie-Studentin sieht es so: "Wie soll jemand, der zehn Jahre isoliert im Gefängnis saß, überhaupt wissen, wie man mit anderen interagiert? Sich in eine Gesellschaft einbringen, die sich so schnell ändert, dass schon nach zwei Jahren alles anders sein kann?"

Die Inserate der Inhaftierten erscheinen auf der Internetseite von Jail Mail. In der Anfangsphase einer Brieffreundschaft empfiehlt Stolzenburg den Personen draußen - die den ersten Brief schreiben - anonymen Kontakt mit einem Pseudonym. Deshalb leitet sie deren Briefe weiter. So können diese ihre inhaftierten Brieffreunde erst einmal kennenlernen und Vertrauen fassen, bevor sie ihre Namen und Adressen angeben. Stolzenburg bekommt pro Woche zwischen 40 und 50 Briefe, schätzt sie. "Das wären circa zehn neue Brieffreundschaften pro Monat. Wie viele davon halten, weiß ich natürlich nicht. Insgesamt vielleicht 200 bis 500." Förderung erhält der Verein keine, lediglich private Spenden.

Keine Dating-Plattform

Die meisten Inserate kommen von Männern, was wohl daran liegen dürfte, dass knapp 94 Prozent der Häftlinge derzeit männlich sind. Viele suchen eine weibliche Brieffreundin. Stolzenburg findet das verständlich: Im Gefängnis seien sie ja ständig nur von Männern umgeben. Eine Dating-Plattform will Jail Mail aber nicht sein. "Ich weiß auch von vielen, die im mittleren Alter sind, berufstätig, eine eigene Familie haben und sich trotzdem die Zeit nehmen."

Tom Berger kann sich noch gut daran erinnern, wie er im Sommer vergangenen Jahres zum ersten Mal Post von Platz erhält. "Fuchsie" steht auf dem Umschlag, ihr Pseudonym. Er findet es gut, dass er noch keinen Namen und kein Gesicht kennt, erstmal nur Worte auf dem Papier, nur eine Persönlichkeit, sagt er. Inzwischen schreiben sich die beiden um die drei Briefe im Monat. Anfangs 2 bis 3 Seiten, heute seien die Briefe manchmal 12 bis 13 Seiten lang.

"Niemand nimmt sich mehr im Alltag die Zeit und setzt sich hin und schreibt", findet Platz. Inhaltlich gehe es viel um ihren Alltag. Ein Highlight sind für sie Urlaubsberichte, über die Tom Berger sich besonders freue. Sie möchte ihm das Leben draußen in jedem Brief näher bringen. "Sodass er nachher weiß, wo er anknüpfen kann, wenn er wieder rauskommt."

Aber es geht auch darum, wie Tom Berger die Haft erlebt, was ihn stört. Oder, wie es mit seiner Familie läuft. Die beiden vertrauen einander viel an, sind wichtige Gesprächspartner füreinander geworden - beidseitig. Der Kontakt helfe ihr, so Platz, ihr eigenes Leben wertzuschätzen, ihre Freiheiten und Privilegien nicht als selbstverständlich zu erachten.

Geständnis per Telefon

Manchmal sei es auch wie Tagebuch schreiben. "Es hat sowas von Loslassen, etwas Befreiendes, wie in einer normalen Freundschaft. Nur ohne das ganze Drumherum." Sie habe gemerkt: Das Drumherum brauche es nicht.

Vor allem an Feiertagen wie Weihnachten mache es sie aber auch mal traurig, mit jemandem befreundet zu sein, der in Haft ist. "Man sitzt zu Hause, hat es schön und gemütlich, und dann schweift man in Gedanken doch ab und fragt sich: Wie geht's ihm jetzt?" Von seiner Tat hat Tom Berger ihr eines Tages am Telefon erzählt - er ist wegen Mordes verurteilt. Es sei nicht ihre Aufgabe, jemanden zu verurteilen, sagt Platz dazu. "Oder danach zu fragen, was vor unserer Brieffreundschaft war. So habe ich mir das immer vorgenommen."

Tom Berger wiederum hat neben Mabel-Mara Platz, die er "MM'chen" nennt, inzwischen mehrere weitere Brieffreunde durch Jail Mail gewonnen. Innige und intensive Freundschaften seien das, die ihn gut beschäftigt halten. Er spricht vom "Ü-Ei-Effekt": Wenn er von seiner Arbeit in der Gefängnisbibliothek komme, schaue er immer zuerst auf eine Liste an der Wand. Befinde sich auf seiner Zellennummer ein Kreuz, wisse er, dass er Post habe. "Es ist diese Überraschung und Erwartung, den Brief zu öffnen. Endlich die Zeilen zu lesen und zu gucken, was drin ist." Dass jemand sich hinsetze und handschriftlich an ihn schreibe, habe eine große Bedeutung für ihn. "Und eine gewisse Nähe auch. Diese Briefe können einem schon mal den Tag retten."

kna