Assistierter Suizid

Droht die „schöne neue Welt“?

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Wie stark wird der Druck auf alte Menschen, wenn assistierter Suizid nicht nur erlaubt, sondern zu einer ganz gewöhnlichen vorstellbaren Alternative wird? Marianne Zingel (94) macht sich große Sorgen.


Marianne Zingel in ihrem Zimmer im Göttinger Pflegeheim.

Marianne Zingel ist mit ihren 94 Jahren eine hellwache Beobachterin der Zeit. In ihrem Zimmer im Göttinger Pflegeheim stapeln sich die Bücher bis unter die Decke, sie diskutiert gerne über die Mystik Edith Steins, kontrolliert die Tageslosungen als geistliche Inspiration an ihren griechischen und hebräischen Urtexten, hat bis vor kurzem per Internet mit ihrem Lehrer in Hongkong noch Chinesisch gelernt und lässt sich von der Nichte mit aktuellen Informationen versorgen.

Marianne Zingel weiß, wovon sie redet – und die aktuelle Entwicklung in Sachen Sterbehilfe macht ihr große Sorgen. Vor allem der radikale Stimmungsumschwung in der Bevölkerung ist für sie ein Alarmzeichen. Denn die Entwicklung, die sie befürchtet: Künftig könnten nicht nur schwerstkranke Menschen ganz legal ihrem Leben ein Ende machen, sondern, zugespitzt, auch der Teenager mit Liebeskummer.

Fatal fühlt sie sich an die Nazizeit erinnert, als Propagandafilme wie „Jud Süß“ oder „Ich klage an“ den gesellschaftlichen Konsens vorbereiteten für die Vernichtung angeblich unwerten Lebens. „Das Bundesverfassungsgericht hat mit seinem Urteil vom vergangenen Jahr die Büchse der Pandora geöffnet“, befürchtet Marianne Zingel.

Seit einem guten Jahr erlebt sie jetzt den durch Corona bedingten Lockdown in einem Altenheim. „Wir sind weitestgehend von der Außenwelt abgeschottet, viele haben keinen Besuch, die meisten Tagesaktivitäten sind auf Eis gelegt. Alles, was ein bisschen Abwechslung in den Alltag bringen konnte, ist auf Eis gelegt. Wer sich als alter Mensch dann auch noch mit Krankheiten plagen muss, fängt an zu überlegen: Wenn ich jetzt meinem Leben schmerzfrei ein Ende setzen könnte – warum nicht?“

Nicht nur das – auch der gesellschaftliche Druck auf Alte und Kranke könnte immens werden. „Was ist, wenn unser Gesundheitssystem nicht mehr zu bezahlen ist? Was passiert, wenn die Pflegekosten das Erbe für eine junge Familie auffressen? Wie wirkt es sich aus, dass die meisten Krankenhäuser und Heime inzwischen in der Hand privater Investoren sind, die Rendite machen wollen? Wird die ‚Schöne neue Welt‘ von Aldous Huxley Wirklichkeit, weil Menschen nicht mehr produktiv und damit für die Leistungsgesellschaft nutzlos sind?“ Viele Fragen, die Marianne Zingel umtreiben. 

Mit 94, das weiß sie, hat sie ihr Leben gelebt. „Angst vor dem Tod habe ich nicht, nur vor einem langen Sterben.“ Aber auch diesen Weg will sie gehen – ohne die tödliche Hilfe anderer.

VON STEFAN BRANAHL