Was Papst Franziskus zur Barmherzigkeit sagt

Du sollst vergeben

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Die Anweisung Jesu im Evangelium ist klar: „Dann geh und handle du genauso!“ Der barmherzige Samariter soll Vorbild für die Jüngerinnen und Jünger Jesu sein. Das Gleichnis illustriert den zentralen Inhalt christlicher Überzeugungen.

Foto: istockphoto/TopVectors

Von Ulrich Waschki

Die Barmherzigkeit ist für Papst Franziskus ein zentrales Kriterium christlichen Lebens. Schon vier Tage nach seiner Wahl zum Papst sprach er erstmals öffentlich von diesem Leitthema. „Etwas mehr Barmherzigkeit verändert die Welt; es macht sie weniger kalt und mehr gerecht“, sagte er beim sonntäglichen Angelusgebet auf dem Petersplatz.

Zwei Jahre später rief er dann das Heilige Jahr der Barmherzigkeit aus. In seinem Schreiben zum Heiligen Jahr macht er sich ausführlich über die Barmherzigkeit Gedanken. Streicht man aus dem Schreiben die kirchenpolitischen und praktischen Erläuterungen, bleibt eine eindrucksvolle Predigt; eine Ermahnung und Gewissenserforschung für den einzelnen Gläubigen und ein Aufruf zu Bekehrung und Umkehr.

Der Papst stellt die Barmherzigkeit als ein wesentliches Merkmal Jesu heraus. „Nichts in ihm ist ohne Mitleid“, schreibt Franziskus. Als Kinder Gottes dürfen wir Barmherzigkeit erfahren: Gott nimmt mich an, mit all meinen Fehlern, Unzulänglichkeiten und Kompromissen. Er hat mein menschliches Leben geteilt, nichts ist ihm fremd.
 
Als seine Jüngerinnen und Jünger sollen wir Maß nehmen an ihm, uns in seiner Spur auf den Weg machen und seinem Vorbild folgen. „Barmherzigkeit wird zum Kriterium, an dem man erkennt, wer wirklich seine Kinder sind“, schreibt der Papst. Das ist der zweite Schritt: Wir sollen selbst Barmherzigkeit üben. Der Papst nennt dafür ein ungewöhnliches und unerwartetes Beispiel. Er schreibt nicht zuerst von Spenden oder anderen Hilfen für Arme, sondern von Vergebung. Wir Christinnen und Christen sollen uns nicht vom Hass, von Missgunst, Rachsucht oder Gleichgültigkeit vergiften lassen, sondern vergeben, also eine innere Haltung der Barmherzigkeit einüben.
 
Die Bulle „Misericordiae vultus“ (Antlitz der Barmherzigkeit) zum Jahr der Barmherzigkeit ist ein eindrucksvoller Text. Es lohnt sich, einige Passagen daraus zu lesen:
 

„Gott ist die Liebe“ (1 Joh 4,8.16), bestätigt der Evangelist Johannes zum ersten und einzigen Mal in der gesamten Heiligen Schrift. Diese Liebe ist sichtbar und greifbar geworden im ganzen Leben Jesu. Seine Person ist nichts anderes als Liebe, eine sich schenkende Liebe. … Seine Zeichen, gerade gegenüber den Sündern, Armen, Ausgestoßenen, Kranken und Leidenden, sind ein Lehrstück der Barmherzigkeit. Alles in ihm spricht von Barmherzigkeit. Nichts in ihm ist ohne Mitleid."

(...)

"Jesus stellt fest, dass Barmherzigkeit nicht nur eine Eigenschaft des Handelns Gottes ist. Sie wird vielmehr auch zum Kriterium, an dem man erkennt, wer wirklich seine Kinder sind. Wir sind also gerufen, Barmherzigkeit zu üben, weil uns selbst bereits Barmherzigkeit erwiesen wurde. Die Vergebung von begangenem Unrecht wird zum sichtbarsten Ausdruck der barmherzigen Liebe, und für uns Christen wird sie zum Imperativ, von dem wir nicht absehen können. Wie schwer ist es anscheinend, immer und immer wieder zu verzeihen! Und doch ist die Vergebung das Instrument, das in unsere schwachen Hände gelegt wurde, um den Frieden des Herzens zu finden. Groll, Wut, Gewalt und Rache hinter uns zu lassen, ist die notwendige Voraussetzung für ein geglücktes Leben."

(...)

"Er sagt also vor allem, dass wir nicht richten und nicht verurteilen sollen. Wer sich nicht dem Gericht Gottes ausliefern will, darf sich nicht zum Richter seines eigenen Bruders machen. Der Mensch bleibt in seinem Urteilen in der Tat an der Oberfläche, der Vater dagegen sieht bis ins Innerste. Wie viel Übel richten Worte an, wenn sie von Neid und Eifersucht bestimmt sind! … Nicht zu urteilen und nicht zu verurteilen bedeutet daher im Positiven, das Gute in einer jeden Person wahrzunehmen und nicht zuzulassen, dass diese wegen unseres begrenzten Urteils und unserer Anmaßung, vermeintlich alles genau zu wissen, leiden muss. Aber das reicht noch nicht, um Barmherzigkeit zum Ausdruck zu bringen. Jesus bittet uns zu vergeben und uns selbst hinzugeben, Werkzeuge der Vergebung zu sein, weil wir zuerst Gottes Vergebung erfahren haben, großzügig zu sein allen gegenüber im Wissen darum, dass auch Gott sein Wohlwollen uns gegenüber großzügig handhabt."

(...)

"Die Verkündigung Jesu nennt uns diese Werke der Barmherzigkeit, damit wir prüfen können, ob wir als seine Jünger leben oder eben nicht. Entdecken wir erneut die leiblichen Werke der Barmherzigkeit: Hungrige speisen, Durstigen zu trinken geben, Nackte bekleiden, Fremde aufnehmen, Kranke pflegen, Gefangene besuchen und die Toten begraben. Und vergessen wir auch nicht die geistigen Werke der Barmherzigkeit: den Zweifelnden recht raten, die Unwissenden lehren, die Sünder zurechtweisen, die Betrübten trösten, Beleidigungen verzeihen, die Lästigen geduldig ertragen und für die Lebenden und Verstorbenen zu Gott beten."

(...)

"Wir können uns nicht den Worten des Herrn entziehen, auf deren Grundlage wir einst gerichtet werden: Haben wir dem Hungrigen zu essen gegeben und dem Durstigen zu trinken? Haben wir Fremde aufgenommen und Nackte bekleidet? ... Genauso werden wir gefragt werden, ob wir geholfen haben, den Zweifel zu überwinden, der Angst schüren und oft auch einsam machen kann. Waren wir fähig, die Unwissenheit zu besiegen, in der Millionen Menschen leben, besonders die Kinder, denen es an der notwendigen Hilfe fehlt, um der Armut entrissen zu werden? Waren wir denen nahe, die einsam und bekümmert sind? ... Hatten wir Geduld nach dem Beispiel Gottes, der selbst so geduldig mit uns ist? Und schlussendlich, haben wir unsere Schwestern und Brüder im Gebet dem Herrn anvertraut? In einem jeden dieser „Geringsten“ ist Christus gegenwärtig. Sein Fleisch wird erneut sichtbar in jedem gemarterten, verwundeten, gepeitschten, unterernährten, zur Flucht gezwungenen Leib …, damit wir ihn erkennen, ihn berühren, ihm sorgsam beistehen. Vergessen wir nicht die Worte des heiligen Johannes vom Kreuz: „Am Abend unseres Lebens werden wir nach der Liebe gerichtet werden.“