Impuls zu Weihnachten

Durch Teilen Freude schenken

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Das auch eine Kleinigkeit zum größten Geschenk werden kann, daran erinnert Schwester Paula Fiebig in ihrem Impuls zum Weihnachtsfest.

In diesem Jahr begleitete mich eine kleine Erzählung durch den Advent: „Die Apfelsine eines Waisenjungen“. In den Abendstunden eines der ersten Adventstage läutete noch einmal mein Telefon. Sr. Lea Ackermann rief an. Ihre Intension war eine kurze Reflexion. Nun war ich jedoch frisch nachgeimpft und mein Schlafbedürfnis größer als gewohnt. So stellte sich Sr. Lea spontan um und sagte: „Dann lese ich Dir eine Gute-Nacht-Geschichte vor. Ich habe hier gerade etwas gefunden.“ 

Eine ganz besondere Weihnachtsgeschichte

Und sie begann:„Schon als kleiner Junge hatte ich meine Eltern verloren und kam in ein Waisenhaus in der Nähe von London. Es war mehr als ein Gefängnis. Wir mussten 14 Stunden täglich arbeiten – im Garten, in der Küche, im Stall, auf dem Felde. Kein Tag brachte eine Abwechslung, und im ganzen Jahr gab es für uns nur einen einzigen Ruhetag. Das war der Weihnachtstag. Dann bekam jeder Junge eine Apfelsine zum Christfest. Das war alles ... Die Apfelsine an Weihnachten verkörperte die Sehnsucht eines ganzen Jahres.

Eine geschenkte Apfelsine steht in einer Erzählung von Charles Dickens für Mitgefühl, Phantasie und Solidarität.
Eine geschenkte Apfelsine steht in einer Erzählung von Charles Dickens für Mitgefühl, Phantasie und Solidarität.

So war wieder einmal das Christfest herangekommen. Aber es bedeutete für mein Knabenherz fast das Ende der Welt. Während die anderen Jungen am Waisenvater vorbeischritten und jeder seine Apfelsine in Empfang nahm, musste ich in einer Zimmerecke stehen und zusehen. Das war meine Strafe dafür, dass ich eines Tages im Sommer hatte aus dem Waisenhaus weglaufen wollen. Als die Geschenkverteilung vorüber war, durften die anderen Knaben im Hofe spielen. Ich aber musste in den Schlafraum gehen und dort den ganzen Tag über im Bett liegen bleiben. Ich war tieftraurig und beschämt. Ich weinte und wollte nicht länger leben.

Nach einer Weile hörte ich Schritte im Zimmer. Eine Hand zog die Bettdecke weg, unter der ich mich verkochen hatte. Ich blickte auf. Ein kleiner Junge namens William stand vor meinem Bett, hatte eine Apfelsine in der rechten Hand und hielt sie mir entgegen. Ich wusste nicht, wie mir geschah. Wo sollte eine überzählige Apfelsine hergekommen sein? Ich sah abwechselnd auf William und auf die Frucht und fühlte dumpf in mir, dass es mit der Apfelsine eine besondere Bewandtnis haben müsse. Auf einmal kam mir zu Bewusstsein, dass die Apfelsine bereits geschält war, und als ich näher hinblickte, wurde mir alles klar, und Tränen kamen in meine Augen, und als ich die Hand ausstreckte, um die Frucht entgegenzunehmen, da wusste ich, dass ich fest zupacken musste, damit sie nicht auseinander fiel. …“ (Charles Dickens, 1812–1870)

Die Erzählung endet mit dem Erkennen: Jeder der anderen Jungen hatte jeweils eine Spalte seiner eigenen Apfelsine hergegeben und so hatten sie eine neue, runde Apfelsine zusammengesetzt! Sein schönstes Weihnachtsgeschenk sei diese Apfelsine gewesen .., so die Aussage des Ich-Erzählers, der von einem unbarmherzigen Waisenhausvater so bitter bestraft worden war. Der Schriftsteller lebte selbst nie in einem Waisenhaus, eine Zeit der Armut und des Alleingelassenseins prägten jedoch seine Kindheit.

Bei SOLWODI in Braunschweig hatte sich in vergangenen Jahren ein schöner Brauch entwickelt: Am Heiligen Abend kamen eine Vielzahl Klientinnen zur Krippenfeier in unser Konventshaus. Wir erzählten von der Geburt Jesu, stellten gemeinsam die biblischen Figuren auf, beteten und entzündeten Kerzen. Ein sehr dichtes, feierliches Geschehen! Im Anschluss „zogen“ wir in den größten Raum unseres Hauses und erfreuten uns am festlich gedeckten Weihnachtstisch, an Speisen aus den Heimatkulturen der Klientinnen. Lieder und Melodien aus der ganzen Welt klangen in den vergangenen Jahren durch unser Haus. Und kleine Geschenke gab es auch, die natürlich besonders die Augen der anwesenden Kinder zum Leuchten brachten. 

Und dann begann das Sich-Erzählen und Zuhören! An welche Feste in meiner Kindheit erinnere ich mich? Welche Traditionen lebten wir in der Familie, in unserer Religion und Kultur? Gibt es Erfahrungen in meinem Leben, an die ich gern denke? Was gibt mir Kraft und Hoffnung für mein Leben? 

In all dem erlebten wir jedes Jahr etwas Wundersames: Trotz unterschiedlicher Sprachen und Herkunftswelten entstanden immer Wege des Verstehens, die eine oder andere von uns konnte übersetzen, Gesten, Zeichen, die Inhalte vermittelten. Und immer wieder gab es gemeinsames Lachen, wenn sich etwas verdrehte, nicht sofort verstanden wurde. 

Seit dem vergangenen Jahr müssen auch wir in den Kontaktgestaltungen manches verändern, Personenzahlen reduzieren, uns vermehrt auf den Weg zu Einzelbesuchen machen, Kommunikationsmedien nutzen. Die erlebten Erfahrungen gehen mit. Manches lässt sich umgestalten, weitertragen, auch im Kleinen leben. Wie erlösend können die Fragen sein: Wie geht es Ihnen in dieser Corona-Zeit, was sind Ihre Erfahrungen? Was ist für Sie das Wichtigste in diesen Weihnachtstagen? Da entwickeln sich ungeahnte Wirk-Kräfte.   

Eine Kleinigkeit wird zum größten Geschenk


Schwester Paula Fiebig

Jesus wurde hineingeboren in die jüdisch-orientalische Kultur des Erzählens! Die alten biblischen Väter- und Müttererzählungen, die großen prophetischen Verheißungen und Bilder begleiteten sein irdisches Leben. Und er selbst war ein Geschichtenerzähler! Er vermochte die Menschen seiner Zeit ebenso wie uns heute durch Geschichten und Gleichnisse in der Tiefe anzusprechen und Räume des Verstehens und Erfassens zu eröffnen. Sein ganzes Dasein war darauf ausgerichtet, die Liebe und Barmherzigkeit des göttlichen Vaters für die „Großen und Weisen“ ebenso wie für die „Kleinen und Geringen“ erfassbar, ja sichtbar werden zu lassen. Jesus teilte in Gänze mit uns das Menschsein und Mit-Mensch-Werden. 

Wir alle sind eingeladen wie er Wege des Verstehens, des Teilens und Anteilnehmens zu suchen und zu gehen. Die Kraft seines Geistes ist uns zugesagt und auf wundersame Weise im Miteinander erfahrbar. Manchmal kann selbst ein einziges Wort, ein kleines Lächeln, eine „einzige Apfelsinenspalte“ zum größten Geschenk werden.  
Ihnen Allen eine gesegnete Weihnachtszeit!

Von Schwester Paula Fiebag

Schwester Paula Fiebag ist Vinzentinerin und leitet die Beratungsstelle von SOLWODI in Braunschweig.

SOLWODI

„SOLidarity with WOmen in DIstress“, das heißt übersetzt – Solidarität mit Frauen in Not. Die Organisation wurde nach ihrer Erstgründung in Kenia 1987 auch in Deutschland von Sr. Lea Ackermann gegründet. SOLWODI unterhält in Deutschland heute 19 Beratungs- und Kontaktstellen sowie Frauenschutzwohnungen für Migrantinnen und deren Kinder. Die Hildesheimer Vinzentinerinnen engagieren sich seit 1999 bei SOLWODI in Braunschweig.