Erleben, wie Pflege heute geht

Ein Erzbischof im Praktikum

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Erleben, wie Pflege heute geht: Das wollten Erzbischof Heiner Koch und Caritasdirektorin Ulrike Kostka bei einem Kurzpraktikum im Caritas-Seniorenzentrum St. Konrad in Berlin-Oberschöneweide.


Hände eincremen, die früher Landarbeit machten: Erzbischof Heiner Koch im Praktikum. | Fotos: Cornelia Klaebe


„Sie haben wirklich schöne Hände“, sagt der Praktikant zu der 94-Jährigen. Noch einmal streicht er über den Handrücken von Frau Strauch, massiert die Creme ein. „Ach, wissen Sie, ich war früher Landarbeiterin, da hatte man nicht diese Möglichkeiten“, entgegnet die alte Dame. „Was mögen diese Hände an Arbeit verrichtet haben?“, sinniert der Freiwillige. Er arbeitet heute im Caritas-Seniorenzentrum Sankt Konrad in Berlin-Oberschöneweide. Statt Kollar trägt er heute ein weißes Polohemd mit rotem Caritas-Emblem, und auf seinem Namensschild steht: „Dr. Heiner Koch, Erzbischof, Praktikant“.

Praktisch erleben, wie Pflege heute geht
Berlins katholischer Oberhirte ist am 17. April in ungewöhnlicher Rolle unterwegs.  „Ich will praktisch erleben, wie Pflege heute geht“, erklärt Koch. Aus diesem Grund macht auch die Berliner Caritasdirektorin Ulrike Kostka mit.
Einen halben Tag lang sind sie in der Einrichtung mit 89 Heimplätzen und einer Tagespflege unterwegs. Betten machen, Rasieren, Füttern, aber auch schmutzige Wäsche und Abfall entsorgen. Das ungewöhnliche Duo soll einen realistischen Einblick in den Heim-Alltag erhalten, erklärt Stationspfleger Matthias Bauerkamp. Zwar ist extra für heute die Besetzung erhöht worden, aber schließlich kann man sich dadurch Zeit nehmen, den beiden Schnupperpraktikanten tatsächlich einen Einblick zu ermöglichen. Entspannt wie an diesem Vormittag geht es auch in dem Caritas-Heim nicht immer zu. Der notorische Personalmangel im Pflegebereich erhöht den Druck auf die Mitarbeiter. Hoher Krankenstand und häufige Berufsaufgaben sind die Folgen. Ein Teufelskreis.

Pflege ist Beziehung: Ulrike Kostka reicht Elisabeth Fiedrowicz das Essen an. Es gibt Grießbrei.

Ein weitere Hürde verhindert, dass eigentlich engagierte Kräfte die Situation verbessern. Jana Wernitz kann den „Praktikanten“ aus eigener Erfahrung darüber berichten. Acht Jahre hat die 40-Jährige als Pflegehelferin gearbeitet und macht nun eine Ausbildung in dem Beruf. Doch die Lehrjahre sind zugleich mit erheblichen finanziellen Einbußen verbunden, die andere von einer solchen Qualifizierung abschrecken. „Viele brechen die Ausbildung auch ab, weil sie finanzielle Probleme haben“, sagt Wernitz, die sie sich selbst nur leisten kann, weil ihr Mann ebenfalls verdient. Mit dem eineinhalbjährigen Kind zuhause brauchen beide viel Organisationstalent, um den Schichtdienst mit der Familie in Einklang zu bringen. „Insbesondere bei Notfällen muss man einfach den Mut haben, auch um Hilfe zu bitten“, weiß die Mutter.

Sogar Betten machen Pfleger anders als vor 20 Jahren: Ulrike Kostka lässt es sich erklären.

„Man pflegt heute anders als vor 20 Jahren“
Derweil ist Ulrike Kostka dabei, in einem Pflegezimmer die Betten zu machen. Für sie ist es nicht das erste Mal, dass sie die Erfahrung im Seniorenheim macht: „Ich habe neben dem Theologiestudium früher zwei Jahre in der Pflege gearbeitet, das war damals ein guter Ausgleich“, erzählt die Caritasdirektorin. Allerdings gebe es auch für sie viel Neues: „Man pflegt anders als vor 20 Jahren.“
Unterschiede gebe es sowohl beim Gesundheitsschutz als auch bei der Sorge um die Bewohner des Heims: „Heute pflegt man rückenfreundlicher“, ist ein Fazit. Zum Beispiel fahren die Pflegekräfte zum Bettenmachen die Betten hoch, sodass sie sich nicht so viel bücken müssen. Eine andere Erkenntnis, die Kostka mitnimmt, ist: „Die Pfleger vom Azubi an wissen sehr viel über die Biografie der Menschen. Wenn eine Frau vergessen hat, wie lange sie schon verheiratet ist, können sie es ihr sagen.“ Insgesamt würden die Bewohner viel mehr als früher nach dem eigenen Willen gefragt, so zum Beispiel ob sie im Speiseraum sitzen bleiben oder lieber ins Zimmer gebracht werden wollen.
Als sie am Ende nach ihrem Erlebten gefragt wird, nutzt Caritas-Chefin Kostka den Abstecher in die Pflegepraxis auch für konkrete Forderungen an die Politik. Sie plädiert für Pflegestipendien in Höhe von 500 Euro monatlich, die das Land Berlin und die Arbeitgeber jeweils zur Hälfte finanzieren sollen. Das Angebot soll es Hilfskräften erleichtern, ihren Lebensunterhalt auch während der Ausbildung zu bestreiten. Zudem fordert Kostka, bereits erworbene Pflegequalifikationen bei der Fachausbildung anzuerkennen, um diese deutlich zu verkürzen.

„Am meisten erfahren habe ich zwischendurch auf den Fluren“: Der Erzbischof im Gespräch mit Stationspfleger Matthias Bauerkamp.

In Erinnerung bleiben die Momente der Begegnung
Auch Erzbischof Koch sieht sich durch das Schnupperpraktikum bestärkt, für eine „viel höhere gesellschaftliche Priorität und Anerkennung“ der Pflege einzutreten. So rät er zu einer stärkeren Finanzierung durch die gesamte Gesellschaft, etwa aus Steuereinnahmen. „Kostensteigerungen dürfen nicht allein an Pflegebedürftigen und ihren Angehörigen hängen bleiben“, warnt Koch.
Er und Kostka sehen auch die eigene Adresse in der Pflicht. Sie werben für mehr „Patenschaften“ der Heime mit anderen kirchlichen Einrichtungen, wie es die laufende Gemeindereform des Erzbistums Berlin anstrebt.
In Erinnerung bleiben werden den beiden Kurzzeitpraktikanten jedoch die Momente der Begegnung, in denen ihnen Menschen von ihrem langen Leben berichtet haben. Koch schätzt die Leistung des Pflegepersonals, die den Senioren viel Liebe und Aufmerksamkeit entgegegenbringen: „Die Menschen, denen ich begegnet bin, waren alle gut drauf, die haben immer weiter erzählt.“ Dass ihre Würde erhalten bleibt, ist ihm wichtig: „Die Frage ist: Was ist uns der Mensch wert?“

Von Cornelia Klaebe und Gregor Krumpholz

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