Bischof Heiner Wilmer ruft im Heiligen Land zum Handeln auf
"Ein Pulverfass für die Welt"
kna/Andrea Krogmann
Herr Bischof, Sie sind der erste ausländische katholische Vertreter, der seit Kriegsbeginn am 7. Oktober das Heilige Land bereist. Was hat Sie zu diesem Besuch bewogen?
Die Entscheidung zu diesem Besuch fiel sehr kurzfristig am vergangenen Sonntag und entgegen aller Ratschläge aus meinem privaten und dienstlichen Umfeld. Man warnte mich, dass dieser Besuch zu früh komme und zu kurz sei. Mir war es jedoch als Vorsitzender der Deutschen Kommission Justitia et Pax wichtig, den Menschen im Heiligen Land so früh wie möglich zu zeigen, dass die weltweite Kirche sie nicht allein lässt. Ich möchte bei ihnen und ihrem Leiden sein und unsere Solidarität zeigen.
Ohne es zu sehr zu vergeistlichen: Mir persönlich ist das Tun Jesu wichtig. Präsenz ist für mich unschlagbar: Da zu sein, ohne mit einer Lösung zu kommen, ohne Bewertung, sondern den Menschen in die Augen zu schauen und ihnen zuzuhören. Es war mir wichtig, mit Vertreterinnen und Vertretern der verschiedenen Gruppen zusammenzukommen, mit Israelis, mit arabischen und hebräischen Christen, mit Vertretern der jüdischen und der muslimischen Gemeinschaft.
Was ist der stärkste Eindruck, den Sie aus den Begegnungen mitnehmen?
Die Lage ist wesentlich komplexer, als ich das in Deutschland gesehen habe, und vielleicht als wir das in Deutschland insgesamt wahrnehmen. Es gibt Leid auf allen Seiten, aber auch auf allen Seiten Anstrengungen um die Hoffnung auf ein gemeinsames Leben. Ein weiterer Eindruck: Bei meinen beiden früheren Heiliglandbesuchen 2012 und 2013 waren viele Orte sehr gut besucht. Bei meinem jetzigen Yad-Vashem-Besuch am Donnerstag, dem Gedenktag an die Reichspogromnacht 1938, waren in der gesamten Gedenkstätte vielleicht zehn Personen. Es herrschten eine unwirkliche Stimmung und eine fast schon gespenstische Stille.
Nehmen Sie tatsächlich wahr, dass es weiterhin Gesprächsbereitschaft zwischen den verschiedenen Konfliktparteien gibt?
Unter denjenigen, die ich getroffen habe, eindeutig ja. Die palästinensischen Christen sind jedoch enttäuscht. Sie sagen, dass sie keine Stimme haben und nicht gehört werden. Auf palästinensischer Seite herrscht große Hilflosigkeit. Aber Forderungen nach einem Waffenstillstand und einem Ende des Kriegs habe ich oft gehört. Es gibt Verständnis für den israelischen Gegenschlag gegen die Hamas, aber man hat das Gefühl, dass es jetzt reicht.
Welche Lösungsvorschläge sind Ihnen bei ihren Gesprächspartnern begegnet?
Mehrheitlich haben sich die Menschen für eine Zwei-Staaten-Lösung ausgesprochen. Hier und da gab es auch die Vision eines Staates mit Gleichheit aller Bürger. Auf palästinensischer Seite wird die Gleichbehandlung etwa bei der Befriedigung von Grundbedürfnissen wie Bildung oder medizinischer Versorgung stark gefordert. Das Thema ist so kompliziert und komplex, dass ich mir keinen Rat anmaße. Ich hoffe, bitte und bete, dass sich die Menschen an einen Tisch setzen.
Von beiden Seiten des Konflikts wurde Kritik an der kirchlichen Position laut. Ist Ihnen diese Kritik begegnet?
Einerseits wird der Kirche und dem Vatikan vorgeworfen, dass sie sich nicht schnell genug an die Seite Israels gestellt haben. Andererseits sagt die palästinensische Seite: Wir sind nicht die Hamas, die Hamas vertritt uns nicht. Bei allem Verständnis für Israel kann es nicht auf unsere Kinder schießen. Die Deutsche Kommission Justitia et Pax hat sehr schnell, am frühen Nachmittag des 7. Oktober, bereits reagiert und sich klar gegen den Terrorangriff der Hamas an der Seite Israels gestellt. Gleichzeitig haben wir betont, dass unsere Gebete bei den Opfern auf beiden Seiten und unsere Sympathie mit allen sind, die sich für Frieden einsetzen.
Wurden Forderungen oder Erwartungen an Sie herangetragen, was die Kirche in Deutschland angeht?
Bei einem Treffen mit Alt-Patriarch Michel Sabbah und dem früheren Patriarchalvikar für die hebräischsprachigen Katholiken im Heiligen Land, David Neuhaus, haben sie mir gesagt, ich müsse in Deutschland zur Sprache bringen, dass es auf beiden Seiten unschuldige Opfer gibt. Pater David hat mich angehalten, über Sprache und Wortwahl nachzudenken. Als Christen stünde es uns an, eine Sprache der Bibel und der christlichen Tradition, nicht eine staatliche Sprache zu wählen. Konkret: Wenn die Rede von einem Recht auf Selbstverteidigung ist, müssen wir uns fragen, ob Jesus das so gesagt hätte. Wir müssten darauf achten, dass bestimmte Narrative nicht so genutzt werden können, dass sie schließlich anderen politischen Zielen dienen. Und insgesamt wünscht man sich mehr Präsenz der Kirche.
Mit welchem Gefühl fliegen Sie zurück?
Wir müssen etwas tun. Dieser Krieg ist ein Pulverfass für die Welt. Deshalb bedarf es der Anstrengungen auf allen Ebenen und aller Menschen guten Willens. Und es braucht das Gebet, weil wir die Hoffnung brauchen, dass es doch möglich ist, dass am Ende nicht Hass und Ungerechtigkeit Bestand haben, sondern Frieden und Gerechtigkeit mehr sind als nur eine Utopie.