Proteste gegen die vielen Morde im Land
Ein Trauermarsch für Nigeria
"Das Land ist nicht mehr sicher", sagen die Demonstranten in Nigerias Hauptstadt Abuja. Seit Jahresbeginn sind 1813 Menschen getötet worden.
Andrea Michael reicht es gewaltig. Die 30-Jährige trägt eine große Sonnenbrille, ist ganz in Schwarz gekleidet und hält ein Poster in ihren Händen, auf dem steht: #EnoughIsEnough, es reicht. Gemeinsam mit gut 100 weiteren Demonstranten hat sie sich am Unity Fountain, dem Brunnen der Einheit, im Zentrum von Nigerias Hauptstadt Abuja versammelt. Dort bringt sie ihre Wut und Enttäuschung zum Ausdruck: "Das Land ist nicht mehr sicher. Es gab zahlreiche Ermordungen, doch die Regierung scheint dazu nur zu schweigen." Heute wolle sie um die Opfer trauern und zugleich Präsident Muhammadu Buhari zum Handeln auffordern. Zu diesem Zweck wollen die Demonstranten in Richtung Präsidentenpalast ziehen. Begleitet werden sie von einem großen Polizeiaufgebot.
Die Kritik an den Massakern, wie die Protestler es nennen, zieht in Afrikas größtem Staat mit mehr als 190 Millionen Einwohnern aktuell weite Kreise. Vergangene Woche kam das Nigeria-Büro der Menschenrechtsorganisation Amnesty International (AI) zu der Einschätzung, dass allein seit Jahresbeginn mindestens 1.813 Menschen durch bewaffnete Konflikte ums Leben gekommen seien. 2017 waren es insgesamt 894. Die Zahlen stammen aus den 17 am stärksten von Gewalt betroffenen Bundesstaaten. Da mutmaßliche Mörder nicht zur Verantwortung gezogen würden, ermutige sie das zu weiteren Gewalttaten und die Unsicherheit im Land nehme zu, so die Menschenrechtler.
Auch nach Meinung der Denkfabrik International Crisis Group mit Sitz in Brüssel verschlechtert sich die Sicherheitslage. Neben Anschlägen durch die Terrorgruppe Boko Haram sowie dem Konflikt zwischen Farmern und Viehhirten im Middle Belt trügen im Süden des Landes schwere Ausschreitungen zwischen einzelnen Kommunen zu der schlimmen Lage bei, heißt es im Monatsbericht für Juni.
"Ein Menschenleben scheint nicht viel wert zu sein"
"Überall im Land kommt es zu Ermordungen. Ein Menschenleben scheint nicht viel wert zu sein", erklärt Aisha Yesufu. Sie gehört zu den Aktivisten der Bewegung #BringBackOurGirls, die seit mehr als vier Jahren für die Freilassung der von Boko Haram entführten Mädchen von Chibok protestiert, und hat den sogenannten Trauermarsch mitorganisiert. "Wir fordern die Regierung auf, dass sie uns Nigerianer schützt", sagt sie und redet sich langsam in Rage. Wie viele andere ärgert sie besonders eine aktuelle Aussage des Präsidenten. Er sagte, er habe alles in seiner Macht Stehende getan. Jetzt helfe nur noch Beten. "Das ist völlig inakzeptabel. Wir sind es leid und wollen nicht mehr jeden Morgen aufwachen und Leichen zählen", schimpft die Demonstrantin.
Dabei stand die Verbesserung der Sicherheitslage neben der Bekämpfung von Korruption im Zentrum von Buharis Wahlkampagne 2014 und 2015. Tatsächlich wurde die Terrorgruppe Boko Haram im Nordosten zurückgedrängt. Doch bis heute kommt es regelmäßig zu Anschlägen. Deutlich verschärft hat sich indes die Farmer-Viehhirten-Krise, die sich vor allem in den Bundesstaaten Plateau und Benue abspielt. Der Middle Belt gilt als Pufferzone zwischen dem muslimischen Norden und dem eher christlichen Süden und ist landwirtschaftlich geprägt. Auch deshalb bekommt der Konflikt mittlerweile so viel Aufmerksamkeit.
Ein ständiger Beobachter der Entwicklung ist die katholische Bischofskonferenz des Landes. "Wir fordern Präsident Muhanmadu Buhari auf, dieses Land vor weiterem Leid, vermeidbarem Chaos, Anarchie und drohendem Unheil zu bewahren", heißt es in der jüngsten Pressemitteilung der Bischöfe aus der vergangenen Woche. Indirekt wiederholen die Geistlichen in dieser Stellungnahme ihre Rücktrittsforderung vom April. Gelinge es dem Präsidenten nicht, für Sicherheit zu sorgen, dann verliere er automatisch das Vertrauen der Bewohner und solle nicht mehr "den Vorsitz" haben.
So weit will Demonstrantin Andrea Michael nicht gehen. Sie hat sich auf den Weg gemacht, um den Präsidenten persönlich zu sehen. Dabei ist seine Dienstvilla weiträumig abgesperrt, die Protestler werden nicht einmal in die Nähe des Staatschefs gelassen. "Ich komme selbst aus Benue und habe einen Teil meiner Kindheit in Plateau verbracht", sagt sie zum Abschluss der Kundgebung. "Es ist schön in dieser Gegend, aber ob ich dort heute leben möchte? Die Lage ist riskant geworden."
kna