Interview mit Misereor-Chef Pirmin Spiegel über Lateinamerika

"Eine Region droht zu kippen"

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Dauerkrise in Venezuela, stockender Friedensprozess in Kolumbien, ein rechtspopulistischer Präsident in Brasilien; dazu schwere Unruhen in Haiti und ein Machtkampf in Nicaragua. Im Gespräch blickt Misereor-Chef Pirmin Spiegel (61) auf die Krisen in Lateinamerika.

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Hilfe für Migranten: Freiwillige verteilen im kolumbianischen Cucuta warme Mahlzeiten an Menschen, die Venezuela verlassen haben. Foto: kna


Herr Spiegel, in Lateinamerika ballen sich derzeit die Krisen. Wie sehen Sie die Lage?
Vor einigen Jahren gab es die Hoffnung, dass Staaten wie Ecuador, Venezuela, Brasilien oder auch Bolivien einen echten Sprung machen nach einer größeren Gleichheit und Solidarität. Diese Hoffnung hat sich so nicht erfüllt. Im Gegenteil: Es ist nicht auszuschließen, dass wir gerade erleben, wie eine Region kippt. Die ersten Betroffenen sind Landlose und Landarbeiter, Indigene und die Armen in den Städten.


Deutsche Politiker richten ihren Blick derzeit eher auf den Nahen Osten und Afrika. Wie sieht es bei den Hilfswerken aus?
Obwohl Deutschland sowohl historisch wie kulturell und wirtschaftlich enge Bezüge zu Lateinamerika hat, ist der Halbkontinent derzeit weniger auf dem Berliner Radar. Da wünsche ich mir eine Kursänderung. Als Organisationen der Entwicklungszusammenarbeit haben wir es, davon abgesehen, zumindest teilweise mit einem grundsätzlichen Dilemma zu tun.


Das heißt?
Einige der Länder Lateinamerikas, Chile und Uruguay, fallen aufgrund ihres wirtschaftlichen Wachstums der vergangenen Jahre aus einem Raster der bilateralen, staatlich geförderten Entwicklungszusammenarbeit heraus. Da können wir dann keine konkreten Projekte anstoßen mit öffentlichen Mitteln. Das Problem aber ist: Dieses Wirtschaftswachstum kommt vielfach nur bei einem kleinen Teil der Bevölkerung an und bildet Ungleichheiten nicht ab.


Bei der bevorstehenden Misereor-Fastenaktion steht El Salvador im Mittelpunkt. Warum fiel die Wahl auf das kleinste Land Mittelamerikas?
Weil hier wie unter einem Brennglas Herausforderungen sichtbar werden, die sich der gesamten Region stellen. Dazu gehören eine extreme soziale Ungleichheit, Anpassung an die Folgen des Klimawandels sowie innere Konflikte, die wie im Fall der berüchtigten Mara-Jugendgangs in El Salvador in Gewalt und Kriminalität münden.


 

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Pirmin Spiegel
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Ein eher düsteres Szenario...
... das aber nur die eine Seite der Medaille darstellt. Etwa die Hälfte der Bewohner El Salvadors ist 24 Jahre alt oder jünger. Dahinter verbirgt sich ein ungeheures Potenzial. Und auch das möchten wir mit der Fastenaktion und dem Motto «Mach was draus. sei Zukunft!» deutlich machen. Es geht darum, auf die Belange der jungen Generation in El Salvador und in vielen anderen Ländern aufmerksam zu machen. Wir fragen nach, wie Gesellschaft, Kirche und Politik mit Blick auf junge Menschen aufgestellt sind. Denn sie sind es, die die Welt von morgen gestalten und Beiträge zur Veränderung geben.


Wie engagiert sich Misereor in El Salvador?
Misereor hat 2018 für elf Projekte rund drei Millionen Euro bereitgestellt für die Zusammenarbeit mit Partnerorganisationen. Der Fokus liegt unter anderem auf der Arbeit im ländlichen Raum sowie den Bereichen Lebenskompetenztraining und Gewaltprävention bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen und bei der Förderung von Menschenrechten.


Klingt nach Graswurzelarbeit.
Nach Analyse aller unserer Partner sind Großprojekte beziehungsweise Projekte, die aufgesetzt werden, der falsche Weg. Die Arbeit muss an der Basis ansetzen, wo sie den Bedürftigen und den Verletzlichsten in der salvadorianischen Gesellschaft unmittelbar zugutekommt, deren Potenziale einbringt und deren Wirklichkeit als Referenzpunkt hat.


Anfang des Monats haben die Salvadorianer den erst 37-jährigen Nayib Bukele zum neuen Präsidenten gewählt. Ein Zeichen für einen Neuanfang?
Nach allem, was wir hören, könnte Bukele tatsächlich frischen Wind in die Politik bringen. Er vertritt etwas Neues - wobei man aber ganz klar sagen muss, dass bislang noch niemand so recht weiß, was denn dieses «Neue» genau beinhaltet. Wird Bukele tatsächlich Akzente etwa beim Umweltschutz und im Kampf gegen Gewalt und Korruption setzen? Oder paktiert er am Ende doch mit den beiden alten Parteien ARENA und FMLN, die seit Ende des Bürgerkriegs 1992 die Szene beherrschen? Vieles ist möglich. Dass der künftige Präsident bereits im ersten Wahlgang die notwendige Mehrheit erreichte, lässt zumindest hoffen, dass ein guter Teil der Bevölkerung einen Politikwechsel wünscht.


Im Parlament allerdings verfügt Bukeles Partei GANA nur über 11 von 84 Sitzen.
Ein Präsident allein macht noch keinen Wandel. Auch das haben uns unsere Partner immer wieder gesagt: Veränderung entsteht von unten. Wenn die Bevölkerung Druck macht, dann wird Bukele darauf reagieren müssen.

kna