Interview Rebekka Martinez Méndez
„Es fehlen die Bonbons des Lebens“
Immer mehr Jugendliche leiden unter der Corona-Pandemie und entwickeln zunehmend depressive Verstimmungen, beobachtet Rebekka Martinez Méndez. Die Diplom-Psychologin leitet die Beratungsstelle für Kinder, Jugendliche und Eltern im Caritasverband Südniedersachsen in Duderstadt.
Die Corona-Pandemie fordert von vielen Menschen stark veränderte Verhaltensweisen mit Kontaktbeschränkungen, Homeschooling sowie Notgruppen in der Kinderbetreuung. Um welche Themen drehen sich derzeit Ihre Beratungsgespräche mit Kindern, Jugendlichen und Eltern?
Vieles dreht sich um die Auswirkungen der Corona-Pandemie. Thematisiert wird, dass die Arbeit fehlt, der Umgang, die Begegnung mit den Kolleginnen und Kollegen, der Kontakt zu den Kunden. Oder auch fehlende Hobbies werden angesprochen wie: „Ich tanze sehr gern, aber das macht man zusammen mit anderen. Ich kann gar nicht mehr sagen, wann ich das letzte Mal tanzen war.“ Auch die Schule und der Sport werden vermisst. Es fehlt die reelle Begegnung mit Mitschülern, Freunden und sogar mit den Lehrern.
Welche Probleme beobachten Sie speziell beim Homeschooling?
Es gibt ganz bestimmt sehr engagierte Lehrkräfte. Aber immer öfter kommen Kinder und Jugendliche und erzählen: „Ich stelle eine Frage an meinen Lehrer per E-Mail. Bis er geantwortet hat, ist die Abgabefrist verstrichen.“ Oder sie fühlen sich mit der Technik überfordert und sagen: „Ich starre auf den Bildschirm und habe das Gefühl, immer noch mehr machen zu müssen als ich schon getan habe.“ Und ganz besonders fehlen die Mitschülerinnen und Mitschüler – und natürlich die Kontakte in der Freizeit. In unseren Gesprächen heißt es dann: „Ich kann einfach nicht mehr, ich habe zu nichts mehr Lust, ich bin nur auf meinem Zimmer, Kontakte zur Außenwelt habe ich ausschließlich digital.“
Wer kommt zu Ihnen? Gibt es eine überwiegende Altersgruppe?
Es sind vor allem die Mädchen, deren Mütter sich an uns wenden oder die sich selbst bei uns melden. In den vergangenen fünf Jahren gab es nicht so viele jugendliche Selbstmelderinnen wie in diesen Zeiten der Pandemie. Depressive Verstimmungen beobachten wir derzeit vor allem bei Mädchen im Alter zwischen 12 und 18 Jahren.
Und wo sind die Jungs? Verkraften die die Situation besser?
Jedenfalls melden sie sich bisher nicht in dem Maße bei uns. Vielleicht trauen sie sich nicht, Hilfe zu suchen. Das wäre schlimm. Oder sie flüchten sich in die Scheinwelten von Computerspielen. Aber auch das wäre nicht gut.
Abgesehen von den äußeren Umständen, wie erklären Sie sich diese depressiven Verstimmungen?
Es fehlen die Bonbons des Lebens. Das jugendliche Selbstbild ist zerbrechlich und im stetigen Wandel. Um zu wachsen, braucht es die Bestärkung von außen, den Zuspruch: Es ist das Lächeln der besten Freundin, die schon am Schuleingangstor auf dich wartet und dir zeigt, dass du ihr wichtig bist. Es ist das „Guten Morgen“ der Lehrerin, das jedem Einzelnen in der Klasse sagt, „auch du bist willkommen und gehörst zu dieser Gemeinschaft dazu“. Es ist die krause Stirn des Mathelehrers, die deutlich macht, ich höre dir zu und will dir helfen. Es ist dieses Gefühl, mit anderen verbunden zu sein, weil die Stimmen im Chor verschmelzen. Und es ist der Treffer im Handball oder Fußball, der einem sagt, dass man es draufhat – die nicht verstandene Mathe- oder Chemieaufgabe ist dann erst einmal ganz weit weg.
In der Psychologie beschreiben wir das Phänomen mit der „Verstärkerverlusttheorie nach Lewinson“. Normalerweise regnet es jeden Tag Bonbons. Manche können die Bonbons des Lebens am Ende des Tages kaum nach Hause schleppen, bei manchen ist die Beute übersichtlicher. Doch die meisten sammeln wie beim Karnevalsumzug täglich ein paar Bonbons des Lebens ein. Aber nun regnet es seit fast einem Jahr diese wichtigen Bonbons nur noch sehr selten. Die Verstärker des Lebens und die Nahrung für ein positives Selbstbild, die Selbstwirksamkeitserfahrungen bleiben weitestgehend aus.
Was genau meint die Verstärkerverlusttheorie?
Wenn sich etwas Wichtiges im Leben verändert und andere, bisher wichtige Dinge verloren gehen, dann herrscht ein Mangel an positiven Erfahrungen und schwierige, anstrengende Erfahrungen überwiegen. In der Folge werden Menschen immer inaktiver, da die eigene Aktivität nicht belohnt wird. Die Belohnung, das sind die Rückmeldungen unserer Mitmenschen und das sind unsere persönlichen Erfolgserlebnisse. Da zurzeit das eigene Verhalten in diesem Sinn gar nicht oder kaum belohnt wird, wird die Aktivität immer mehr unterlassen und der Rückzug in das eigene Zimmer verstärkt den Verlust an positivem Erleben. In diesem Zustand der Passivität werden immer weniger bestärkende Erfahrungen gemacht, neue Verstärker werden nicht entdeckt. Es kommt zu depressiven Verstimmungen.
Spielen also die Kontaktbeschränkungen hier eine entscheidende Rolle?
Die von außen gegebenen Kontaktbeschränkungen und Regeln können gemeinsam mit dem Verstärkerverlust eine „erlernte Hilflosigkeit“ produzieren. Die erlernte Hilflosigkeit ist eine negative Erwartungshaltung, bestimmte Situationen und Sachverhalte nicht kontrollieren und beeinflussen zu können. Wer davon betroffen ist, gerät immer mehr in eine Passivität aufgrund der gemachten „Kontrollverlusterfahrungen“. Diese negative Erwartung beeinflusst das weitere Verhalten. Obwohl es vielleicht Handlungsspielräume gibt, werden diese aufgrund der immer wieder gefühlten Machtlosigkeit nicht genutzt.
Welche Lösungswege bieten Sie an?
In den Beratungsgesprächen erklären wir den Jugendlichen, dass sie nicht allein sind, und wie es zu der depressiven Verstimmung kommt. Welche genetischen, psychischen und sozialen Faktoren sowie aktuelle Belastungsfaktoren eine Rolle spielen. Bei vielen führt dies bereits zu einer psychischen Entlastung, denn viele fragen sich: „Was ist denn eigentlich nicht richtig mit mir? Ich habe doch eigentlich alles, was ich brauche.“ Die Jugendlichen erkennen im Gespräch, dass dies nur vordergründig der Fall ist. Wir versuchen zusammen mit ihnen, alles zu sammeln, was ihnen aus ihrem Vor-Corona-Alltag fehlt.
Wie sind die Reaktionen?
Bei den Jugendlichen macht sich eine Mischung aus tiefer Trauer und Erleichterung über das Verstehen breit. Die Tränen laufen. Eine Jugendliche beschrieb den Zustand so: „Ich bin da und atme, aber mein Leben steht auf Standby auf ungewisse Zeit.“
Wie geht es dann weiter?
Für uns gilt es immer, herauszufinden, wie schwer die depressive Stimmung ist. Manchen empfehlen wir den Besuch bei niedergelassenen Psychotherapeuten, um sich dort Hilfe zu holen. Aber immer entwickeln wir in unseren Beratungen gemeinsam ein „Trotzdem“. Denn nur der Weg aus dem Zimmer, lässt die Lebensgeister wieder tanzen.
Interview: Johannes Broermann
Unter 08 00 / 1110 333 ist das Kummertelefon für Kinder und Jugendliche rund um die Uhr erreichbar. Hier erhält man auch Auskunft über die nächstgelegene Beratungsstelle.