Interview mit Sabine Werth, Gründerin der Berliner Tafel

"Es muss eine Reichensteuer geben"

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Der Andrang bei der Berliner Tafel ist schon jetzt groß. Gründerin Sabine Werth befürchtet, dass in den Wintermonaten wegen der hohen Inflation die Schlangen noch länger werden. Im Interview sagt sie, wie ihre Ehrenamtlichen zu helfen versuchen – und wie die Politik das Problem lindern könnte.

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Jeden Tag eine Herausforderung: Erst hat die Pandemie die Tafel gelähmt, nun fehlen Lebensmittel für die Bedürftigen. Foto: imago images/Snapshot


Wie ist derzeit die Stimmung an den Ausgabestellen der Berliner Tafel?
Die Stimmung verkrampft sich langsam. Vor ein paar Monaten war die Solidarität mit den Flüchtlingen aus der Ukraine enorm groß. Selbst die armen Menschen, die bei uns anstehen, sagten: „Die kommen aus dem Krieg, denen geht es noch viel schlechter als uns.“ Aber die Menschen merken jetzt auch, dass unser Angebot knapper wird: Wir haben seit Monaten ein Vielfaches weniger an Lebensmitteln, vor allem bei Gemüse, Obst und Brot. Wenn die Leute zwei Stunden bei uns anstehen und dann zwei Äpfelchen und eine Möhre bekommen, ist das frustrierend. Der Unmut wächst.

Richtet sich der Unmut gegen Flüchtlinge oder andere Minderheiten?
Das kommt hier und da vor. Aber das habe ich eher selten gehört. 

Gegen wen richtet er sich dann?
Es ist eher ein allgemeines Gefühl von Frust und Enttäuschung. Zum Beispiel über die sogenannten Entlastungspakete: Wenn ein Mensch Hartz IV bezieht und kein Auto hat, dann hat ihm der Tankrabatt nichts genützt. Jetzt kosten die Tickets im Nahverkehr wieder den normalen Preis. Auch das ist nicht schön. Manchmal entlädt sich dann dieser Frust an unseren Ehrenamtlichen.

Wie gehen die damit um?
Das wird im berlinerischen Ton geregelt: „Ey, Alter, jetzt halt doch mal die Klappe.“ Dann kommt zurück: „Du hast mir hier nichts zu sagen, nur weil du hier so ein bisschen ehrenamtlich bist.“ Die meisten nehmen das locker. Sie kennen ihre Pappenheimer. 

Wie viele Menschen brauchen in Berlin die Hilfe der Tafel?
Im Januar waren insgesamt 40 000 Menschen bei unseren 47 Ausgabestellen als Kunden registriert. Jetzt sind es 76 000. Manche Ausgabestellen haben einen Zuwachs von weit mehr als 100 Prozent. Zusätzlich eröffnen jetzt auch acht Kirchengemeinden Ausgabestellen, die sonst nicht mitmachen. Wenn die Not vorbei ist, schließen die automatisch wieder. Aber wir werden sehen …

 

Foto: Berliner Tafel
Sabine Werth, Gründerin der Berliner
Tafel. Foto: Berliner Tafel/Dietmar Gust

Wer kommt zu Ihnen?
Zu uns kommen Alleinerziehende, Kinder und Jugendliche, bedürftige Rentnerinnen und Rentner und Menschen, die Grundsicherung oder Hartz IV beziehen. Neuerdings kommen immer mehr Menschen aus der Mittelschicht: Verkäuferinnen, Busfahrer, Erzieherinnen. Die sagen: „Ich hätte nie gedacht, dass ich einmal zur Tafel gehen muss. Aber es geht nicht mehr anders. Meine Reserven sind aufgebraucht.“ Da ist gesamtgesellschaftlich enorm etwas in Bewegung und wir können noch gar nicht absehen, wo das Ganze hinführt.

Wie verzweifelt sind die Menschen?
Ihre Sorgen und Nöte sind größer geworden. Alle haben eine unglaubliche Panik vor den Heiz- und Stromkosten. Wir können im Augenblick noch gar nicht absehen, was da passieren wird, wenn im nächsten Jahr die Abrechnungen kommen. 

Wie sehr leidet auch die Tafel selbst unter den gestiegenen Sprit- und Energiepreisen?
Auch uns wird das erst im nächsten Jahr so richtig erwischen. Wir haben eine Kühlung und Tiefkühlung für jeweils 36 Paletten. Die kosten sowieso schon ein Vermögen – aber bei den erhöhten Preisen erst recht. Die hohen Dieselkosten spüren wir schon seit Monaten: Wir haben 26 Sprinter im Einsatz. Da kommt einiges zusammen. Ich sehe uns nicht in Existenzgefahr, aber auch bei uns wird die Not größer. Die Berliner Tafel existiert nur durch Spenden und Mitgliedsbeiträge. Wir brauchen jeden Cent.

Was ist derzeit Ihr größtes Problem?
Wir haben zu wenig Lebensmittel. 

Woran liegt das?
Wir arbeiten mit rund 1400 Supermärkten und Discountern zusammen. Viele bieten inzwischen sogenannte Retter-Tüten an: Sie verkaufen abends die Waren, die sie am Tag nicht losgeworden sind, für einen Appel und ein Ei. Viele Menschen kaufen diese Tüten, weil sie verhindern wollen, dass Lebensmittel im Müll landen. Andere nehmen die Tüten, weil für relativ wenig Geld eine Menge drin ist.

Eigentlich ist das ja eine gute Sache …
… die uns aber auf die Füße fällt. Das sind die Sachen, die wir als Tafel am nächsten Tag eigentlich abgeholt hätten. Wir haben zum Beispiel mehrere Lidl-Märkte als Partner verloren, weil die für uns nichts mehr haben. 

Was erwarten Sie für die nächsten Wochen und Monate?
Ich fürchte, dass es katastrophal werden wird. Dass sich der Andrang der Menschen bei uns noch einmal um mindestens 100 Prozent, wenn nicht um 200 Prozent steigern wird. Wir haben die Katastrophe erst noch vor uns. Die Supermärkte haben schon jetzt wieder Preissteigerungen angekündigt; da nützen auch die paar Sonderangebote, die sie manchmal rausbringen, nichts.

Wie kann sich die Tafel auf die Wintermonate vorbereiten?
Gar nicht. Wir verteilen alles, was wir haben. Aber wenn nichts mehr da ist, ist nichts mehr da. Schon jetzt öffnen einige Ausgabestellen nur noch 14-tägig für jeweils die Hälfte der Kunden. Auch wegen der emotionalen Belastung der Mitarbeiter werden über kurz oder lang weitere Stellen diesem Beispiel folgen.

Wie meinen Sie das?
Unsere Ehrenamtlichen machen das aus Herzensüberzeugung. Dann plötzlich zu erleben, dass jemand weinend vor der Ausgabe steht und nicht weiß, wie er oder sie sich und die Kinder über den Monat bringen soll und dass wir diesem Menschen kaum etwas geben können – das ist schwer zu verkraften. 

Wie unterstützen Sie Ihre Mitarbeiter?
Zum Glück sind das oft super eingespielte Teams, die schon jahrelang zusammenarbeiten. Die tauschen sich aus und stützen sich gegenseitig. In jedem Team gibt es eine Teamleitung, die darauf achtet und vielleicht auch mal sagt: „Mensch, bleib du nächste Woche mal zu Hause. Du brauchst eine Pause.“ Die achten sehr aufeinander.

Und wie können Sie Ihren Kunden helfen – auch dann, wenn die Lebensmittel mal knapp sind?
Unsere Ausgabestellen heißen ja „Laib und Seele“: Wir teilen den Laib Brot, wollen aber auch etwas für die Seele tun. Fast immer sind in den Ausgabestellen die Pfarrerinnen oder Pfarrer der Kirchengemeinden, die mit den Kunden sprechen. Sie können den Menschen zumindest das Gefühl geben, aufgehoben und nicht alleine zu sein.

Was erwarten Sie in dieser schwierigen Situation von der Politik?
Ich erwarte, dass die Regierung sich wirklich mit der gesamtgesellschaftlichen Situation auseinandersetzt. Uns war seit Monaten klar, dass wir für das untere Drittel der Gesellschaft etwas tun müssen. Jetzt zeigt sich, dass es auch die Mitte der Gesellschaft trifft. Da muss die Hilfe hin. Alles, was oberhalb dieser Mitte ist, kann mal ignoriert werden. Es müsste bei denen zugelangt werden, die wirklich viel Geld haben, und zielgenau denen gegeben werden, die es wirklich brauchen. Es muss eine Reichensteuer geben. Wenn sich die FDP da nicht bald bewegt, haben wir ein wirkliches Problem. Ich befürchte dann das Schlimms-te für unsere Gesellschaft.

Kerstin Ostendorf