Eine Geschichte von Geben und Empfangen
Fahrten nachhause
Schuhe und Kleidung, Krankenhausbetten, Rollstühle – Rainer von Scharpen hat sein halbes Leben lang immer wieder Güter nach Polen transportiert. Alles, was dort dringend gebraucht wurde. Eine Geschichte vom Geben und Empfangen. Von Ruth Lehnen
Weihnachtsgeschenke 1945: Rainer von Scharpen erinnert sich noch gut. Er bekam einen hölzernen Bauernhof, ein Milchauto und einen „Wuschiwasch“. Das war eine aus Strümpfen selbstgemachte Puppe. Es war sein letztes Weihnachten in Zoppot, er war erst dreieinhalb, aber er hat es nicht vergessen. Genauso gut erinnert er sich an den Strand seiner Heimatstadt, an Sandburgen und das Meer. Heute hat der mittlerweile 81-Jährige Zoppot nach Mainz geholt: Viele Bilder in seinem Haus zeigen den Strand, die Heimatstadt Zoppot, das benachbarte Danzig, und über seinem Schreibtisch, an dem der passionierte Philatelist seine weltumspannenden Korrespondenzen in den Computer hackt, fliegt eine Möwe aus Holz. Die früheste Bindung war die stärkste. „In Zoppot und in der Kaschubei, da bin ich zuhause, da bin ich im Gleichklang“, sagt der pensionierte Lehrer und Vater von fünf Töchtern.
Was hier aussortiert wurde, war dort begehrt
Wer kann schon sagen, wonach genau er sich gesehnt hat: War es der weiche Dialekt mit seinen originellen Ausdrücken? Oder ist es die Landschaft, über die er ins Schwärmen gerät? Bis 1980 war diese Sehnsucht nach Zoppot und Danzig nicht zum Zug gekommen. Dann berichtete ihm eine Schülerin, sie fahre mit ihrem Vater nach Polen, auch nach Danzig. Das war ein Auslöser: „Ich will zurück nach Danzig!“ Im Sommer 1981 begleitete von Scharpen eine Schülergruppe und stand erstmals wieder vor der Tür der ehemals elterlichen Wohnung. Die Begrüßung war freundlich, er wurde hereingebeten. Es war die Zeit der Solidarność, der Gewerkschafts- und Befreiungsbewegung, die das kommunistische Polen verändern sollte. Von Scharpen ging mit offenen Augen überall herum, und er sah viel Armut. Menschen im kommunistischen Danzig waren mit zwei verschiedenen Schuhen an den Füßen unterwegs, und Kinder mit aufgeschnittenen Gummistiefeln, damit die Zehen Platz hatten.
Damals beschloss er zu helfen. Zurück in Mainz sammelte er in kurzer Zeit 1000 Paar Schuhe. Auch Lebensmittel waren im ersten Transport dabei, Fett, Öl, Reis, Milch. Zum ersten Advent 1981 war von Scharpen wieder in Danzig und hatte seine „dary“ dabei, wie die Polen sagen, seine „Gaben, Geschenke“.
121 Mal nach Danzig
Seitdem ist von Scharpen 121 Mal nach Danzig gefahren, fast immer im 7,5 Tonner mit dem Schild der Caritas, die seine Transporte unterstützte. Manchmal war es ein richtiger Konvoi, denn der Lehrer fand Mitstreiter. Zuerst ging es um Lebensmittel und Kleidung, danach um Krankenhausbetten und Matratzen, um Rollatoren und Medikamente und zuletzt um Inkontinenzware für das Caritas-Hospiz in Zoppot.
„Dem ist vor nichts bang“, sagten die Leute über von Scharpen und seine Durchsetzungskraft, man könnte auch sagen, seine Sturheit. Denn er ließ sich nicht stoppen. Mit sanftem oder auch mal stärkerem Druck gewann er viele, die ihm halfen: Sammler, Packer, Fahrer. Auch seine Frau Wiltrud hat ihn immer unterstützt. Zusammen erfüllte das Team „Danzighilfe“ etliche Sonderwünsche: So gingen zum Beispiel eine Hobelbank, Messgewänder und einmal sogar eine Heißmangel auf die Reise.
Beim letzten Transport wurde der Mainzer in Danzig hoch geehrt, er erhielt den Päpstlichen Orden Benemerenti. Der Orden war nicht die einzige Gegengabe, die er bekommen hat. Er nennt die Freundschaft, namentlich mit Prälat Ireneusz Bradtke, der die Danziger Caritas aufbaute; er nennt die Zeitzeugenschaft – von Scharpen war hautnah dabei, als Polen sich veränderte, später in die EU aufgenommen wurde. Waren die Fahrer mit ihren Transporten in den Anfangsjahren noch schikanösen Zollkontrollen ausgesetzt, hielt die LKW zuletzt niemand mehr auf.
Schwieriges Polnisch und ein Spezialvokabular
Der Mainzer lernte die Gegend um Danzig kennen und nahm als Lehrer Schulklassen dorthin mit. Polnisch kann er, der Französisch und Englisch fließend beherrscht, nur gebrochen sprechen: „Ich kann nach dem Weg fragen und die Speisekarte lesen, ich bin nicht verloren.“ Auch ein Spezialvokabular hat er sich angeeignet: Er kennt die polnischen Wörter für Rollator, Windel und Toilettenstuhl.
Mit 81 Jahren, meint der Lehrer, müsse er jetzt vernünftig sein. Seine Fahrten sind zu Ende – das sei für ihn schwierig, gibt er zu. Sie haben ihm und den Beschenkten Glück gebracht und Freude. Sie haben eine Wunde geheilt, die lange geschmerzt hatte. Rainer von Scharpen hat so oft Grenzen überschritten, bis sie für ihn unwichtig geworden sind. Sein Hunger nach Heimat wurde gestillt – das ist für ihn das größte Geschenk.
Von Ruth Lehnen
Zoppot, Danzig und der Krieg
Zoppot ist ein heute polnisches Ostseebad in der Nähe von Danzig. Im Jahr 1945 kurz vor Ende des Zweiten Weltkriegs versuchte die deutsche Bevölkerung, vor der heranrückenden sowjetischen Armee zu fliehen. Bekannt ist der Untergang der "Wilhelm Gustloff"m bei dem Tausende Flüchtlinge umkamen. Die "Wilhelm Gustloff" wurde von einem sowjetischen U-Boot torpediert und sank am 30. Januar 1945. Rainer von Scharpen konnte mit seiner Familie "mit dem letzten Schiff vor der Wilhelm Gustloff" fliehen. Er war damals dreieinhalb Jahre alt. Zoppot und Danzig gehören seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs zu Polen. Aus Zoppot wurde Sopot, aus Danzig wurde Gdansk. Von Mainz nach Zoppot sind es 1250 Kilometer.