Religionssoziologe Detlef Pollack über die Rolle der Religion im Krieg in der Ukraine
"Fatale Rolle" der russisch-orthodoxen Kirche
Die russisch-orthodoxe Kirche stehe für die einstige Größe Russlands und halte die Erinnerung daran wach, sagt der Religionssoziologe Detlef Pollack.
Die russisch-orthodoxe Kirche bietet im Krieg Russlands gegen die Ukraine nach Worten des Religionssoziologen Detlef Pollack "in besonders trauriges Spektakel". Sie stelle sich "nicht an die Seite der Schwachen und Verfolgten, sondern hofiert den Gewaltherrscher und bietet ihm ideologisches Rüstzeug", schreibt Pollack in der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung". So spiele sie eine "fatale Rolle".
Ihr "kompromittierendes Bündnis mit den Machthabern" habe die russisch-orthodoxe Kirche nie aufgegeben, erklärt der Wissenschaftler. Auch habe sie kaum Aufarbeitung oder Diskussion zugelassen. In der Bevölkerung sei ihr "Angebot einer religiös-ethnischen Identität" unterdessen begierig aufgegriffen worden. So sei die Zahl derjenigen, die sich mit der Orthodoxie identifizieren, von 1990 bis 2020 von einem Drittel auf zwei Drittel der Bevölkerung gestiegen.
In dieser Zeit sei die orthodoxe Kirche zu einer "Trägerin nationaler Identität" aufgestiegen, so Pollack. "Seit Jahrzehnten meint in Russland eine satte Mehrheit, ein wahrer Russe müsse orthodox sein. Dieses religiös aufgeladene Nationalbewusstsein ist alles andere als harmlos." In Studien hätten sich 90 Prozent der Russen dafür ausgesprochen, dass Russland eine Supermacht sein solle. Zugleich sehe man sich durch fremde Kulturen bedroht.
Das nationale Selbstbewusstsein ziehe seine Kraft "vor allem aus den großen Erfolgen in der Vergangenheit, aus dem Sieg im Zweiten Weltkrieg, aus der literarischen Tradition Russlands, aus den Leistungen bei der Erkundung des Weltalls sowie aus der vermeintlichen Geduld und Unerschütterlichkeit des russischen Volkes." Die orthodoxe Kirche stehe für diese "einstige Größe Russlands", schreibt der Wissenschaftler. "Ihr kommt wesentlich die Funktion zu, die Erinnerung an diese Größe wachzuhalten."
Finanziell und gesellschaftlich werde die orthodoxe Kirche gegenüber anderen Religionsgemeinschaften bevorzugt, fügt der Experte hinzu. Der Moskauer Patriarch Kyrill I. überhöhe den russischen Angriffskrieg nun ins Metaphysische; er sehe "himmlische und höllische Mächte miteinander im Kampf". Mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin verbinde Kyrill der Wille, "Russland zu alter Größe zurückzuführen".
Der Patriarch fiel in den vergangenen Tagen mit Aussagen auf, der Westen sei schuld am Krieg. Die russischen Angriffe legitimierte er indirekt damit, Gläubige sollten vor "Gay-Pride-Paraden" Homosexueller geschützt werden. Dies sei "keineswegs nur eine taktische Finte, um konservative Gläubige zu gewinnen", betont Pollack: "Homophobie, Xenophobie und Homogenitätsvorstellungen sind essenziell für die orthodox-autokratische Weltsicht."
Hoffnung setze er in Frauengruppen und die junge Generation, die sich offen für Demokratie und liberale Werte zeigten oder die Verzahnung von Staat und Religion hinterfragten, schreibt der Religionssoziologe. Ob sie etwa erreichen könnten, hänge indes auch vom weiteren Kriegsverlauf ab.
kna