Zerstörter Weihnachtsschmuck im Ahrtal

"Gegenstände sind Vehikel der Erinnerungen"

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Gegenstände können wertvoller sein, als man denkt. Oft hängen an ihnen wichtige Erinnerungen. Besonders zum Weihnachtsfest werden immer wieder die gleichen Utensilien hervorgeholt. Im Ahrtal sind viele davon in der Flut zerstört worden.


Aus der Flut gerettet: Zwei mit Schlamm verschmierte Engel vor einem Haus in Ahrweiler. Foto: kna/Harald Oppitz

Eine Gefriertruhe, ein Eimer Schlamm, ein Korb voller Fotoalben, Konservendosen, eine Lichterkette: Es ist Juli 2021, ein Wohngebiet in Sinzig an der Ahr. In einer Menschenkette räumen Freiwillige den Keller eines Einfamilienhauses, der mannshoch mit Wasser und Schlamm gefüllt ist. Das Hochwasser hatte zwei Tage zuvor mehrere Regionen Deutschlands überflutet.

Die Helfer befördern alles, wirklich alles, was in dem Keller des Ehepaares war, die Treppe hinauf und auf einen Müll- und Schlammberg, der sich im Vorgarten türmt. Auch kistenweise Weihnachtsdekoration wird auf den Haufen gekippt, Scherben von roten Kugeln schimmern aus dem Schlamm. Die früheren Bewohner stehen sichtlich unter Schock. Die beiden befördern eher mechanisch ihr Hab und Gut auf den Müll, als dass sie bewusst Herr und Herrin der ganzen Lage wären. Mit einer Ausnahme.

Die Treppe herauf wandert von Hand zu Hand eine weitere Kiste mit Weihnachtsdekoration. Eine verdreckte Krippe liegt obenauf. Die Hausherrin zieht die Krippe aus der Kiste und legt sie behutsam beiseite. "Die kann man ja vielleicht sauber machen", sagt sie. Der Rest wandert auf den Müllhaufen.

Gegenstände können bei der Bewältigung von Krisen helfen

Wenn ein ganzer Hausstand weggeworfen wird, wieso ist ausgerechnet diese Krippe wichtig? Sie bedeutet ihr wohl etwas. Warum hängen Menschen an manchen Gegenständen, obwohl diese materiell vielleicht keinen großen Wert haben? Warum fühlen sich ebenso Erwachsene, nicht lediglich Kinder - man denke an den Lieblingsteddy -, mit manchen Objekten verbunden?

Die Kulturwissenschaftlerin beim LVR-Institut für Landeskunde und Regionalgeschichte, Katrin Bauer, erklärt, dass viele Dinge nicht einfach nur Dinge sind, sondern über das rein Materielle hinausgehen. Jeder Gegenstand könne symbolisch für etwas anderes stehen und dadurch eine größere Ebene bekommen, die den Gebrauchswert übersteigt. Gegenstände vereinfachen das Erinnern und können Emotionen auslösen. Bauer nennt sie ein "Vehikel" für Erinnerungen: Sie erzählen eine Geschichte und lösen Bilder aus. Die Wissenschaftlerin spricht von "in das Ding hineingeschriebenen Erinnerungen". Diese werden in engsten Wortsinn greifbar durch besondere Objekte und vergegenwärtigen Vergangenes.

Gerade in Krisensituationen erlangten manche vorher unbedeutenden Gegenstände eine Bedeutung, erläutert die 45-Jährige. Sie führt als Beispiel eine Tasse an, die ein normales Gebrauchsutensil gewesen war, bevor die Flut alle anderen Teile zerstört habe. In diesem Moment wird die übrig gebliebene Tasse aus ihrem eigentlichen Kontext herausgerissen und erzählt nun die Geschichte, dass sie früher beispielsweise immer morgens genutzt wurde. Solche Gegenstände könnten dabei helfen, Krisensituationen zu bewältigen, erklärt Bauer. Man halte an ihnen fest, man brauche sie zum Verarbeiten. Sie geben Orientierung, schlagen eine Brücke vom Vergangenen in das Neue.

Stärkere Emotionen bei Weihnachtsgegenständen

Die Kulturwissenschaftlerin hat auch eine These, warum ausgerechnet eine Krippe gerettet wurde: Für die Weihnachtszeit hätten die Menschen hierzulande die meisten Dekorationen und Traditionen. "Weihnachten ist die Zeit der Rituale", erklärt Bauer. "Das Fest läuft für viele Menschen immer gleich ab. Dazu gehört auch, dass man immer den gleichen Schmuck aufhängt oder immer Omas Krippe rausholt. Es sind stärkere Emotionen in Weihnachtsgegenstände eingeschrieben."

So kann beispielsweise an einem bestimmten Deko-Engel die Erinnerung an die jährliche Feier und vielleicht sogar an Verstorbene hängen, mit denen man früher Weihnachten gefeiert hat. "Das Intergenerationelle, das Innerfamiliäre" stecke in diesem Schmuck, erläutert Bauer. Denn die damit verbundene Erinnerung ist nicht nur eine persönliche, sondern eine Art kollektive Erinnerung, die die ganze Familie umgreife und vielleicht auch für die Identität als Familie eine Rolle spielt.

Eine Kleinigkeit mit großem Wert

Außerdem ist die Advents- und Weihnachtszeit eng mit der Vorstellung verbunden, sich aus der dunklen, kalten, auch schwierigen Winterzeit in ein gemütliches, sicheres Zuhause zurückzuziehen. Die Corona-Pandemie verstärke dies noch, betont Bauer. Für Menschen in Krisensituationen wie in den Hochwassergebieten sei diese Zeit nun besonders schlimm, denn ihnen fehle der typisch adventliche Rückzugsort.

Auch könnten sich liebgewonnene Rituale nicht in der gleichen Form wiederholen. Dies betone den Bruch, der stattgefunden hat, erklärt die Kulturwissenschaftlerin. Rituale entlasten durch ihre Wiederholung davon, immer neue Entscheidungen treffen zu müssen. Menschen in den Hochwassergebieten bräuchten gerade solche kräftesparenden Routinen, so Bauer. Das gemütliche Zuhause, immergleiche Tannenbaumanhänger oder die altbekannte Krippe stehen ihnen vielfach aber nicht mehr zur Verfügung.

Immerhin: In zahlreichen Orten im Rheinland wurden in den letzten Wochen gezielt Krippen, Krippenfiguren und Weihnachtsdeko gesucht und auch reichlich gespendet für die Menschen in den Flutgebieten. Vielleicht kann ja so die ein oder andere neue Tradition begründet werden.

Durch die Menschenkette in Sinzig wandern derweil die nächsten Schlamm-Eimer. Ein Korb wird die Treppe hinauf gereicht. Darin ein Fotoalbum, das unter Tränen aus dem Korb gerettet wird: Eine Kleinigkeit im Vergleich zu den unzähligen Verlusten, die die Flut verursacht hat. Aber eine Kleinigkeit mit großem Wert.

kna/Nicola Trenz