Interview mit Generalvikar Martin Wilk
Gemeinsamer Weg statt Abrissbirne
Der Immobilienprozess „Zukunftsräume“ im Bistum ist angestoßen. Die KiZ hat dazu Generalvikar Martin Wilk befragt, der schriftlich geantwortet hat.
Zunächst eine Verständnisfrage: Vor mehr als zehn Jahren wurden die Kirchen im Bistum kategorisiert und ca. 60 Gotteshäuser daraufhin geschlossen, verkauft, abgerissen. Mein Eindruck war, dass dieser Prozess vorerst abgeschlossen ist. Stehen jetzt auch wieder Kirchen zur Disposition?
Wir haben einen anderen Ansatz. Als Kirche von Hildesheim sind wir – wie alle anderen Diözesen und Kirchen – in einem massiven Umbruch. Die Christinnen und Christen von morgen sind nicht einfach „geprägte Katholikinnen und Katholiken“ und werden es in dieser Weise vermutlich auch nicht mehr sein. Deswegen versuchen wir vor allem zu fragen, wie wir in Zukunft in den Pfarreien Kirche sein werden: Welches sind die Herausforderungen, vor denen wir stehen? Wie verkünden wir das Evangelium? Wie leben wir mit den Menschen in unserem Dorf, in unserer Stadt, in unserem Quartier. Das sind die Zukunftsfragen – und natürlich wirken sie sich auch auf die Frage aus, welche Gebäude wir wozu in Zukunft brauchen. Gleichzeitig steht fest, dass wir in Zukunft ein Bistum mit weniger Katholikinnen und Katholiken sein werden – und mit deutlich geringeren finanziellen Ressourcen. Wenn wir nur die Hälfte der Gebäude baulich erhalten können, wenn auch vor Ort Kirchenvorstände es nicht mehr schaffen, ihre Haushalte ausgeglichen zu gestalten, weil die Baulast zu hoch ist – dann könnte man natürlich wieder kategorisieren. Aber genau das tun wir nicht. Mit den Pfarreien, die es sich wünschen, steigen wir in diese Immobilienprozesse ein. Und wir wollen gemeinsam schauen, welche Gebäude es für die pastorale Zukunft braucht. Dieser Vergewisserungsprozess ist sicher herausfordernd, zumal nicht wir die Entscheidungen fällen – sondern die Pfarreien. Aber sie werden gut begründbar sein. Entscheidend ist uns der Blick in die Zukunft und die vitale Energie der Pfarrei. Ich bin zuversichtlich, dass viele Kirchengemeinden auch nach ihrer Zukunft suchen, und mit leichterem Gepäck ihrer Sendung folgen.
Dabei spielen die Kirchen eine besondere Rolle. Der Immobilienprozess bezieht sich auf alle Gebäude einer Pfarrei, aber die Kirchen sind uns besonders wichtig: Sie sind Orte des Gebets, der Feier von Liturgien – Orte, die uns in die Gottesbegegnung führen und die Gemeinschaft mit Christus bezeugen. Natürlich kann es auch hier sein, dass kein Leben mehr da ist – dass Gemeinden aussterben. Dann muss wirklich ernsthaft überlegt werden, wie wir mit den Kirchen umgehen.
Das neue Papier heißt „Zukunftsräume“. Das klingt erst einmal sehr positiv. Wenn man weiterliest, geht es aber darum, dass sich das Bistum von rund 50 Prozent seiner Immobilien trennen will. Werden da im Titel nicht falsche Erwartungen geweckt?
Der Prozess ist auf 10 Jahre angelegt. Wir fragen: Welche Räume braucht eine Kirchengemeinde in 10–20 Jahren wirklich? Welche Vitalität ist heute hier – und wie wird sich das entwickeln in eurer Pfarrei. Unsere Überlegung zielt nicht auf Abrißbirnen, sondern auf einen gemeinsamen Weg in die Zukunft der Kirche, der zweifellos mit geringeren Zahlen und Ressourcen rechnet. Es wird zum Beispiel weniger Gruppen geben – das ist auch heute schon anders als vor 10 oder 20 Jahren – und das hat Konsequenzen auch für die Gebäude.
In den vergangenen Monaten haben wir diesen Prozess den Priestern und dem Diözesanrat vorgestellt, und auch an einigen Stellen schon ausprobiert. Wir spüren ein hohes Interesse an diesem Prozess. Wir setzen dabei auf Augenhöhe. Wir kommen erst in eine Pfarrei, wenn diese das auch will. Meistens stehen ja wichtige Fragen im Blick auf die Gebäude an. Dann schlagen wir diesen Prozess vor. Nur dann, wenn wir in die Zukunft schauen und fragen nach der zukünftigen Ausrichtung der Kirchengemeinde, können wir auch größere Investitionen verantworten. Das wollen wir tun. Gemeinsam mit allen Beteiligten vor Ort. Es kann auch sein, dass Kirchengemeinden davon Abstand nehmen, diesen Prozess gemeinsam zu gestalten. Auch das ist eine reale Möglichkeit – dann werden wir allerdings auch nicht in die Gebäude investieren können.
Wie wollen Sie verhindern, dass der Prozess nicht zu Frust und Verärgerung in den Gemeinden führt und eventuell sogar einen weiteren Auszug aus der Kirche zur Folge hat?
Wir wollen ermöglichen, dass Kirchengemeinden die Wirklichkeit einer doch ziemlich radikal sich verändernden Kirche wahrnehmen und selbst realistisch Zukunftsszenarien entwickeln. Das ist ein Einladung, keine Pflicht. Und es kann Lust auf eine andere Zukunft wecken, für die alle Mitverantwortung tragen. Wenn Gebäude aufzugeben sind, wird es immer Trauer und auch Ärger geben. Aber wir setzen auf gemeinsame Verantwortung – und deswegen werden wir als Bistum nicht einfach von oben Entscheidungen fällen. Sehr wohl tragen wir unsere Einschätzungen bei, und beraten und begleiten. Aber die Entscheidungen, auch die bitteren, fallen vor Ort.
Wenn infolge des Immobilienprozesses zum Beispiel Pfarrheime, Pfarrzentren oder Jugendtreffpunkte abgewickelt werden, wo sind dann noch die Räume, in denen sich Zukunft etablieren kann?
Wenn schon heute an manchen Orten Pfarrheime und Jugendräume leerstehen – ist das die Zukunft? Klar ist doch, dass Christinnen und Christen in der Zukunft sich weniger in festen Gruppen organisieren werden. Aber ist es nicht denkbar, dass wir uns in Stadtteilzentren treffen, dass wir unsere Räume mit anderen teilen, dass wir gemeinsam Räume nutzen zum Beispiel mit den evangelischen Gemeinden? Entscheidend ist doch nicht der „eigene Raum“, sondern die Beziehungsstärke der Christen und unser Zeugnis für Christus und für das Evangelium.
Unser Immobilienprozess berücksichtigt eine Situation, von der wir alle wissen, dass sie schon lange Realität ist: Die große Zeit der Gemeindegruppen ist vorbei. Unsere Zeitgenossen sind kreativ, selbstständig und fantasievoll. Sie organisieren sich selbst. Das ist schon jetzt so – und sehr vielfältig. Und die Frage wird sein: Welche Art von Räumen wird es in Zukunft dafür brauchen.
Sie sprechen von einer wachsenden Zahl innovativer Projekte, von zahlreichen neuen Handlungsfeldern und einem damit verbundenen Wandel. Geschehen die meisten Aktivitäten, zumindest wenn man an die Zahl der beteiligten Menschen denkt, bis heute nicht in den traditionellen Gemeinden?
Wer an vielen Orten genau hinschaut, der sieht auch das Alter vieler beteiligter Menschen. Und der sieht auch, dass es eine nächste Generation nicht so machen wird, wie die bisherigen Gemeindechristen. Das betrifft – gerade für die Nachcoronazukunft – die Gottesdienste genauso wie die traditionellen Aktivitäten. Es geht nicht darum, traditionelle Gemeinden auszuspielen gegen innovative Projekte. Beides ist wichtig, beides findet Raum in unserer Kirche. Aber schon heute sind für die religiöse Entwicklung Kindergärten und Schulen vielleicht deutlich wichtiger als Pfarrheime – und hier müssen wir investieren in die Mitarbeitenden, damit sie diese Perspektive mittragen. Die Verbände, die muttersprachlichen Gemeinden (1/3 der Katholikinnen und Katholiken unseres Bistums sind anderer Muttersprache), die kleinen und großen Initiativen – das ist kein Sonderprogramm, sondern erweitert den Horizont einer vielfältigen Kirche. Im übrigen glaube ich, dass wir als Christen – evangelisch wie katholisch – tatsächlich in eher kleiner Zahl sehr engagierter Gruppen unterwegs sind. Die Strukturen einer Volkskirche haben sich – auch als Kirche in der Diaspora – an vielen Orten aufgelöst. Für die meisten Christen spielt die Gemeinde eine untergeordnete Rolle – und was heißt das für unsere Zukunft? Mehr als in Gebäude braucht es Investitionen in die Herzensbildung der Menschen, damit sie – wo immer sie leben – Zeugen des Glaubens sein können.
Wenn ich das Papier richtig gelesen habe, gibt das Bistum eine ganz klare Struktur für den Immobilienprozess vor. Nur Gemeinden, die dieser Struktur folgen, können künftig noch mit einer finanziellen Unterstützung für ihre Immobilien rechnen, wer nicht mitmacht, geht leer aus. Ist dies der richtige Weg, um auf mündige Gemeinden zuzugehen?
Die Nachhaltigkeit von baulichen Inves- titionen wird in den nächsten Jahren eine große Rolle spielen. Aus diesem Grund bedarf es eines Grundgerüstes an Entscheidungshilfen, die in diesem Bereich größere Ausgaben von Mitteln aus der Kirchensteuer rechtfertigen können. Das vorliegende Papier stellt dieses Grundgerüst dar. Wir möchten damit in einen intensiven Austausch- und Entwicklungsprozess mit mündigen Christen kommen. Wer mündig ist, muss selbst entscheiden, was er möchte.
Diese Möglichkeit hat nun jede Pfarrei. Jede Pfarrei hat auch die Möglichkeit, neue Wege der Finanzierung zu finden. Es geht ja nicht einfach darum, Bestände zu wahren, sondern Zukunft zu gewinnen. Der Prozess hat eine klare Struktur, und das ist sein Vorteil: Ohne Struktur gibt es leider Machtspiele und Lobbyismus, Druck und Gegendruck. Das ist unmündig und entspricht nicht der Reife der Persönlichkeiten, mit denen wir unterwegs sein wollen.
Für uns ist deswegen der Immobilienprozess auch ein Kirchenentwicklungsprozess: Die Pfarrei, die lokale Kirchengemeinde trägt Verantwortung für die Zukunft, und wir unterstützen sie dabei. Möchte jemand andere Wege gehen, ist er frei – aber dann muss eine Gemeinde auch Verantwortung für den eigenen Weg übernehmen. Wir machen gute Erfahrungen mit transparenten und klaren Partizipationsprozessen.
In die Entscheidungen vor Ort soll auch immer das Bistum einbezogen werden. Gibt es da ein Misstrauen gegenüber den Gemeinden?
Gar nicht. Kein Misstrauen. Wir haben kein Gegenüber. Wir wollen ein Miteinander. Und wir akzeptieren ja viele Entscheidungen der Kirchengemeinden. Keine Kirchengemeinde muss einen Immobilienprozess mit uns machen – wir sind bereit, zu kommen. Wir sind bereit, auch Prozesse abzubrechen, wenn keine Energie da ist – oder wenn eine Kirchengemeinde sich anders entscheidet. Und wir setzen auf Vertrauen zueinander. Wir vertrauen – aber wo uns Misstrauen entgegenkommt, werden wir nicht weitermachen können.
Inwieweit ist der Prozess ergebnisoffen oder müssen Gemeinden befürchten, dass wie bei den Fusionsprozessen, Entscheidungen zum Teil nicht mehr beeinflussbar sind?
Wenn eine Kirchengemeinde mit uns einen Immobilienprozess startet, hat sie ein Anliegen, will sie eine Lösung für ein Problem. Das ist dann auch unser Anliegen. Wir investieren in die Zukunft, wenn die Gestaltung von Gebäuden zukunftsfähige Kirchenentwicklung fördert. Aber es ist immer die Entscheidung der Kirchengemeinde, die am Ende zählt. Wir werden am Anfang immer deutlich machen, in welchem Rahmen wir auch finanziell unterstützen können. Dann wird schnell deutlich, ob wir auf einen gemeinsamen Prozessweg kommen, an dessen Ende auch kluge Entscheidungen stehen.
Sie beschreiben den Immobilienprozess als „Türöffner für eine pastorale Neuausrichtung“. Ist das nicht ein Wunschdenken, dass sich aus dem Abbau von Immobilien neue seelsorgliche
Aktivitäten entwickeln? Muss man nicht eher das Gegenteil befürchten, dass sich dadurch Ehrenamtliche aus der aktiven Beteiligung in der Pastoral zurückziehen?
Das hängt davon ab, welches Kirchenbild jemand hat. Ich bin vorsichtig optimistisch. Wo heute schon keine Energie für die Zukunft ist, wird sie auch in zehn Jahren schwerlich sein. Wo heute Lust auf eine pastorale Neuausrichtung besteht, wird – im Rahmen der Möglichkeiten einer Kirchengemeinde – neues Engagement wachsen. Es geht uns nicht zuerst um den Abbau von Immobilien. Nein, der Prozess ist keine schöne Verpackung für den Abrissbagger. Er ist ehrlich gemeint: Wir wollen gemeinsam Zukunft gestalten – vielleicht auch unorthodox, vielleicht im Stadtviertel. Ist es nicht so, dass wir mehr die werden sollten, die mit den Menschen unterwegs sind? Und nicht zuerst die, die ihr Geld in Gebäude investieren, in die immer weniger Menschen kommen? Eine Diskussion um unsere Zukunftsperspektive steht an. Ich hoffe, dass wir im Blick auf das Godehardjahr hier viel stärker in eine gemeinsame Neuausrichtung kommen. Es geht doch nicht um Bestandserhalt oder kleine Reförmchen – es geht um eine Neuausrichtung angesichts der Zeichen der Zeit. Und das erfordert mutige Schritte – auch im Blick darauf, wo und wie wir Menschen begeistern für die Botschaft des Evangeliums.
Wir stecken mitten in einer so noch nicht dagewesenen Krise. Die Gemeinden machen sich Sorgen darüber, wie Kommunion- oder Firmvorbereitung stattfinden können, wie es nach Corona in den Gemeinden weitergehen wird, welche Abbrüche es gibt. Ist das jetzt der geeignete Zeitpunkt, diesen Immobilienprozess „Zukunftsräume“ anzustoßen?
Kommunionvorbereitung, Firmvorbereitung … – das ist nicht wirklich die Krise in der wir stecken. Die Krise reicht viel tiefer und ist auch seit Jahrzehnten im Laufen. Es ist wie der Klimawandel ein lang schon angelegter Verwandlungsprozess. Wir haben in den vergangenen Jahrzehnten uns mehr damit beschäftigt, wie wir eine Kirche in der bisherigen Form erhalten können, und wie wir die Leute zu uns bekommen. Aber darum geht es nicht. Es geht um die Frage, wie das Evangelium heute wirken kann – wie die Leidenschaft des Glaubens Menschen berührt. Und das ist eine Frage an die Zukunft.
Nur zu verhindern, das Gebäude verfallen, ist keine Zukunftsorientierung. Zu fragen, wie wir den Menschen von heute begegnen, die zu mehr als 90 Prozent nichts vom Evangelium, vom christlichen Glauben wahrnehmen – das ist die Herausforderung. Zu fragen, wie wir unseren Glauben heute leben, wie wir Gott finden und wie wir anderen dienen können – darum geht’s. Sie haben recht: Wir sind in gewaltigen Umbrüchen. Und genau deswegen müsse wir fragen, wohin der Geist Gottes uns führt. Es ist Zeit dafür.
Fragen: Edmund Deppe
Weitere Informationen: www.bistum-hildesheim.de/zukunftsraeume