Nach vorne schauen
Gott geht mit
Selten sind sich die Lesungen so einig wie diesmal. In allen drei Texten lautet die Botschaft: Schau nach vorn, nicht zurück – politisch, privat und religiös. Manchmal kann dabei ein Ritual helfen, zum Beispiel ein Segen.
„Schau nach vorn, nicht zurück, erzwingen kann man kein Glück“, reimte 1966 der junge Udo Jürgens und gewann damit den Grand Prix. Es war eine Art Abschiedslied auf eine Liebesbeziehung. Sein Titel „Merci, chérie“, ist bekannter als die Liedzeile mit dem Glück.
Ein Neuanfang nach gescheiterten Beziehungen. Daran denken wir oft zuerst. An die vielen Ehen, die zu Bruch gehen, an neue Partnerschaften, die eingegangen werden. An die Leichtfertigkeit, mit der das manchmal geschieht. An die Schmerzen die das bereitet.
Nach vorne schauen: im Privatleben
Dass das kein neues Phänomen ist, davon erzählt das heutige Evangelium in der bekannten Geschichte von Jesus und der Ehebrecherin. Interessant ist: Jesus fragt nicht, wer mit wem oder warum; die Schuldfrage stellt er nicht. Er schaut ausschließlich nach vorn: Geh und sündige von jetzt an nicht mehr. Ob die Frau dafür zu ihrem Mann zurückkehren soll? Ob sie überhaupt verheiratet ist? Ob sie in eine fremde Ehe eingebrochen ist? Niemand weiß es. Nur die Zukunft zählt: Mach es ab jetzt besser!
Nach vorne schauen: in Gesellschaft und Politik
Schau nach vorn, nicht zurück – das gilt aber auch für viele andere Lebenslagen. Der Prophet Jesaja hat die politische Geschichte seines Volkes vor Augen. Schaut nicht zurück auf die Sklaverei in Ägyten; schaut nicht zurück auf die babylonische Gefangenschaft. „Siehe, nun mache ich etwas Neues. Schon sprießt es, merkt ihr es nicht?“, lässt er Gott sagen. Gott führt sein Volk nach politischen Wirren, gesellschaftlichen Verfehlungen und kriegerischen Niederlagen zurück in das gelobte Land. Eine neue Chance für eine ganze Gesellschaft: Deutschland hat das nach 1945 erlebt, andere Länder erleben es bis heute. Schaut nach vorn, nicht zurück, wenn Despoten abtreten, wenn Bürgerkriege enden, wenn böse Ideologien am Ende sind.
Nach vorne schauen: im religiösen Leben
Noch anders ist die Situation in der Lesung aus dem Brief an die Philipper. Da geht es um einen geistlichen Neubeginn, um die neue Ausrichtung auf Gott, auf Jesus Christus. Es geht um das Heil, auf das wir hinleben. „Ich bilde mir nicht ein, dass ich es schon ergriffen hätte. Eines aber tue ich: Ich vergesse, was hinter mir liegt, und strecke mich nach dem aus, was vor mir ist“, sagt Paulus. Und das soll doch wohl heißen: Man kann es jeden Tag besser machen. Dass Paulus einst Christen verfolgte? Geschichte! Hier und heute den Glauben zu leben – das ist die Gegenwart. Und die Zukunft.
So weit, so gut. Aber ein bisschen klingt das schon so, als ob man die Vergangenheit schlicht vergessen sollte. Aber das kann es ja wohl nicht sein. Konnte es noch nie. Nicht in persönlichen und nicht in politischen Beziehungen. Frühere Schuld muss benannt werden, Täter müssen bestraft, Strukturen des Bösen aufgedeckt werden. Ohne Gerechtigkeit, ohne – wie man heute sagt – Aufarbeitung kein Neubeginn. Ohne Bekenntnis zu eigenem Versagen keine Vergebung. Verdrängen von eigener oder kollektiver Schuld ist kein Erfolgsrezept.
Aber dann: ach vorn. „Siehe, nun mache ich etwas Neues.“ Schuld nie zu vergeben – sich selbst oder anderen – führt zu Verbitterung; der trauernde Blick nach hinten auf das, was geschehen ist und was hätte sein können, verhindert eine gelingende Zukunft. Und die will Gott: für Täter und Opfer, für Verlassene und Verwaiste, für Menschen, die einen Schicksalsschlag erlitten haben, ein Unglück, einen Unfall, einen Verlust. Gott geht mit auf dem Weg nach vorn.
Neubeginn ist oft ein schleichender Prozess; er dauert lange, besonders, wenn Trauer im Spiel ist. Aber manchmal braucht es auch einen bewussten Startpunkt. Einen Moment, an dem man zeichenhaft spüren kann: Ab jetzt geht es vorwärts.
Nach vorne schauen: mit Gottes Segen
Ein solches Zeichen kann die Beichte sein, Gottes Vergebung, die neues Leben ermöglicht. Eine tiefe innere Erleichterung kann das sein, ein Abschluss eines falschen Weges. Aber nicht alle Wege waren falsch, manche gehen einfach zu Ende. Oder verzweigen sich in eine neue Richtung. Wie kann man dann ein Zeichen setzen?
„Wir haben vor einiger Zeit mit einer Arbeitsgruppe eine Segensfeier zum Neubeginn entwickelt“, sagt Andrea Schwarz, pastorale Mitarbeiterin im Bistum Osnabrück. „Die Idee ist entstanden, weil wir vor allem in der geistlichen Begleitung von Menschen entdeckt haben: Viele suchen so ein Zeichen für den Neubeginn – und was wäre da besser geeignet als ein Segen Gottes?“
Es müssten keine dramatischen Neuanfänge sein, sagt Andrea Schwarz. „Es reicht schon so ein grummeliges Gefühl, dass es so nicht weitergehen kann.“ Zum Beispiel, dass man vor lauter Anforderungen und Verpflichtungen zu wenig auf sich selbst geachtet hat. „Der Vorsatz, sich selbst mal was Gutes zu tun, kann durchaus mit Gottes Segen verbunden werden.“ Ein beruflicher Neubeginn, der Eintritt in die Rente, ein Ortswechsel, ein Einschnitt in der familiären Situation: All das sind wichtige Veränderungen, für die ein geistliches Ritual hilfreich sein kann. Es geht nach vorn, nicht zurück – und Gott geht mit seinem Segen mit.
In gedruckter Form ist diese Segensfeier zum Neubeginn noch nicht erschienen, „obwohl ich die Idee nach wie vor überzeugend finde“, sagt Andrea Schwarz. Ein neuer Anlauf soll aber demnächst gemacht werden. „Einen Segen kann jeder spenden, und gesegnet zu werden, etwa von jemandem, der mich geistlich auf dem neuen Weg begleitet, empfinden viele als hilfreich.“
Schau nach vorn, nicht zurück. Wenn die biblischen Texte heute davon sprechen, drücken sie sich nicht vor der Verantwortung für Vergangenes. Aber sie vertrauen darauf, dass Gott alles neu machen kann. Im Kleinen wie im Großen und auch bei jedem einzelnen von uns.
Susanne Haverkamp