Vergewaltigungserfahrung einer angehenden Nonne
Gottes Angesicht
„Einer trage des anderen Last.“ Sieger Köders Simon-von-Zyrene-Bild drückt aus, was sich Ellen Adler von Mitchristen wünscht. Foto: Sieger Köder-Stiftung Kunst und Bibel, Ellwangen / www.verlagsgruppe-patmos.de/rights/abdrucke |
Die gruseligen Ausführungen ihres DDR-Staatsbügerkunde-Lehrers Anfang der Achtziger Jahre hat Ellen Adler noch heute im Kopf. Anstatt ihre Kräfte für die Befreiung der Arbeiterklasse einzusetzen, würden die Katholiken absurde Hexenrituale veranstalten, menschliches Blut trinken und Fleisch essen, ereiferte sich der Lehrer. Die aufgeweckte Siebtklässlerin reizten diese Geschichten, sich ein eigenes Bild von diesen Christen zu machen.
Sie suchte die nächste katholische Kirche und wagte sich in einen Sonntagsgottesdienst. Die Predigt zum Psalm 27 über die Suche nach dem Angesicht des Herrn gefiel ihr so gut, dass sie den Pfarrer nach dem Gottesdienst abpasste: „Ihr Plan gefällt mir. Ich würde gerne mit suchen nach dem Angesicht des Herrn“, sagte sie ihm.
„Dass längst nicht alle in der Gemeinde den Pfarrer so verstanden hatten wie ich selbst, wurde mir erst viel später bewusst“, erzählt Ellen Adler mit verhaltenem Schmunzeln. Jahrelang war sie überzeugt, dass die anderen schon längst nach dem Angesicht des Herrn suchten. Geduldig wartete sie also und hoffte, dass man eines Tages auch sie mitmachen lassen würde. Ihre freie Zeit verbrachte sie in der Gemeinde. „Die Worte Jesu empfand ich damals, als wären sie gerade zu mir gesprochen. Ich habe sie alle ganz wörtlich genommen“, erinnert sie sich.
Als sie auf das Abitur zuging, wuchs in ihr die Überzeugung, dass Klöster ideale Orte für Gottsucher sein müssten. Sie schaute sich einige DDR-Frauenklöster an und verschlang allen Lesestoff zum Thema „Orden“, den sie ergattern konnte. Am heftigsten schlug ihr Herz für die Spiritualität Teresa von Avilas, für das kontemplative Gebet, aber auch für den einfachen Lebensstil. Karmelitinnen gab es in der DDR nicht, doch kurz nach dem Fall der Mauer meldete ihr Bischof sie in einem österreichischen Kloster an. In einem westdeutschen Männerkloster sollte sie auf das Visum und die Bahn-Fahrkarten nach Österreich warten.
Wo war Gott? Hat er einfach zugeguckt?
Unter 25 Novizen aus aller Welt erfasste sie in diesem Kloster Aufbruchstimmung. Bewegt von den Demonstrationen am Pekinger „Tienanmen“ und den aufregenden Umbrüchen in Jugoslawien, Südafrika und der DDR, hatten sie alle das Gefühl, in einer bewegten Zeit zu leben, in der auch der Heilige Geist besonders präsent schien. Alle hatten ihre Heimat zurückgelassen, alle ließen sich auf die ganz neue Erfahrung im Kloster ein. „Wir waren gewissermaßen in Flitterwochen mit Gott“, beschreibt Ellen Adler ihr damals vorherrschendes Gefühl.
Dass der älteste der Novizen ihr – insbesondere bei spirituellen „Leibübungen“ – immer wieder ein wenig zu nah kam, sie etwas zu lange berührte und seine Hände dabei wie zufällig in intimere Zonen rutschten ließ, war ihr unangenehm. In der verwirrend neuen Welt, die es für sie zu entdecken galt, ließen sich diese Eindrücke aber leicht beiseite schieben. Dennoch teilte sie ihr Unbehagen mehrfach dem Leiter der Novizenausbildung mit. „Mit dir stimmt etwas nicht“, signalisierte der ihr jedesmal. Er forderte sie auf, an ihren Begrenzungen zu arbeiten, an ihrer eingeschränkten Hingabefähigkeit an Gott, der ihr schließlich auch den Leib geschenkt habe. „Was ich mit diesem Novizen erlebte, fühlte sich für mich aber ganz und gar nicht an, als fördere es meine Gottesbeziehung“, sagt Ellen Adler. Freundschaftliche Umarmungen, wie sie in dieser Gemeinschaft üblich waren, fand sie „völlig okay“. Ihre inneren Alarmglocken schrillten einzig bei jenem älteren Novizen auf dem Weg zur Priesterweihe. Kurz bevor sie zu den Karmelitinnen weiterreisen konnte, vergewaltigte er sie.
In tiefstem Zwiespalt kam sie in dem österreichischen Kloster an – erfüllt wie nie zuvor von dem Gefühl, „angekommen“ zu sein, und zugleich völlig aufgewühlt. „Ich hatte die Vorstellung, dass jeder sehen müsste, was mir passiert war. Wie konnten die Schwestern so weitermachen, als wäre nichts gewesen?“ Nach zwei tränenreichen Wochen sprach die Oberin sie an: „War da etwas mit einem Mann?…“ Sie bejahte, doch noch ehe sie sich richtig erklären konnte, erklärte die Schwester ihre Klosterzeit für beendet und forderte sie auf, umgehend zu packen. Wie sie aus Österreich herauskam, weiß Ellen Adler nicht mehr. Es folgten für sie Jahre innerer Taubheit. Ein Versuch, den Täter zur Rede zu stellen, scheiterte. Ihr Heimatbischof verschaffte ihr einen Ausbildungsplatz in einem katholischen Altenheim. „Es war, als trage ich eine bleierne Last mit mir herum“, sagt sie über ihr damaliges Leben, „meine Kraft reichte immer gerade für den nächsten, mühsamen Schritt.“
Religion kam in dieser Lebensphase eigentlich nicht vor, zuweilen nur stieg der Gedanke in ihr auf: „Gott, wo warst du? Wenn du da warst, müsstest du ja zugeguckt haben!?“ Als Ellen Adler aus dieser Verfassung erwachte, war sie verheiratet. Anders als sie selbst wusste ihr Mann, was er wollte: eine fleißige, fügsame Frau, die im Familienbetrieb mitarbeitete. Kurz aufeinander bekam sie drei Kinder. Die Zukunft im Familienbetrieb verhinderte der Schwiegervater. Seine Vorbehalte galten allen Frauen aus der einstigen russischen Besatzungszone. Nachdem sich ihr Mann für den Betrieb und gegen sie entschieden hatte, ging sie mit den noch kleinen Kindern zurück nach Ostdeutschland.
Am neuen Wohnort suchte sie wieder Anschluss an die Kirche. Der Pfarrer weigerte sich, ihre Kinder zu taufen. Das dürfe er nicht, weil sie ja geschieden sei, meinte er. Nach ihrem kritischen Hinweis klärte die Bistumsleitung den Pfarrer über seinen kirchenrechtlichen Irrtum auf. Der blieb bei seiner Haltung. Ein bereitwilliger Kollege wartete seinen Urlaub ab, um die Taufe doch zu vollziehen. Als Alleinerziehende hätte sich Ellen Adler Rückhalt aus ihrer Gemeinde gewünscht. Stattdessen fühlte sie sich oft an den Rand gedrängt – wenn ihr Sohn von einer Religiösen Kinderwoche vorzeitig ausgeschlossen und nach Hause geschickt wurde etwa oder wenn in keinem der Familienkreise für sie Platz war. Ihrem Glauben und der Kirche blieb sie dennoch verbunden, übernahm in der Gemeinde liturgische Dienste und studierte im Fernstudium Theologie: „Wenn ich mir Jesus vor Augen hielt, der sich nicht an die Seite der Reichen, Mächtigen und Erfolgreichen gestellt hat, fühlte ich mich trotzdem am richtigen Platz.“
Jahre später, im Auflösungsverfahren ihrer Ehe, kehrte die zwischenzeitlich komplett ausgeblendete Erinnerung an die Kloster-Erlebnisse mit unerwarteter Wucht zurück. Sie begriff, wie sehr diese Tat sie belastet und ihr weiteres Leben bestimmt hatte. Bei kirchlichen Ansprechpartnern stieß sie oft auf schroffe Abfuhr. „Es geht Ihnen allen doch sowieso immer nur ums Geld. Also sagen Sie gleich, wieviel Sie wollen!“, bekam sie zum Beispiel zu hören. Wenn ihr Glauben geschenkt wurde, war das zumeist gepaart mit dem bedauernden Hinweis, man könne nichts für sie tun. Sie sei zum Tatzeitpunkt ja nicht mehr minderjährig gewesen und gelte deshalb nach kirchlichem Recht nicht als schutzbedürftig. Obendrein sei die Tat strafrechtlich verjährt und kirchenrechtlich irrelevant, da der Beschuldigte zum Tatzeitpunkt noch kein Kleriker war.
Inzwischen ist der damalige Novize ein bekannter Exerzitienleiter. Am Rande eines Thementages „Macht und Missbrauch“ sprach Ellen Adler mit ihrem heutigen Bischof über die Geschehnisse. Der übergab den Fall daraufhin der Staatsanwaltschaft und setzte ein kirchenrechtliches Verfahren in Gang. Für sein Bistum hat er dem Beschuldigten ein Seelsorgeverbot erteilt. Ellen Adler erleichtert das, doch solche Verfahren sind für Betroffene zermürbend. Mehrfach hat sie erlebt, dass die Anwälte des Männerordens sie und andere Verfahrensbeteiligte zur Rücknahme ihrer Aussage auffordern und mit Klagen drohen. Details zu ihrem Fall haben sie wiederholt in falsche Zusammenhänge gestellt und an Dritte weitergegeben. Von dem damaligen Novizen gab es nie ein Zeichen des Bedauerns. Er ist in einem anderen Bistum weiter im Einsatz.
Mit solch einem Gott die Ewigkeit verbringen?
Um seelsorglichen Beistand hat Ellen Adler in dieser Lage mehrfach vergeblich gebeten. Wenn es darauf ankommt, fühlt sie sich von Priestern wie Laien ihrer Kirche alleingelassen, so als sei Missbrauch ansteckend. „Die Last, die ich trage, hat mir doch aber die Kirche aufgebürdet!“, ruft sie in Erinnerung. „Wenn Gemeindemitglieder an meiner Seite geblieben und mitgetragen hätten, wäre vieles für mich leichter gewesen.“ In letzter Zeit fragt sie sich immer öfter: Mache ich mich mit schuldig, wenn ich in dieser Kirche bleibe?“ Nicht nur ihr Kirchenbild hat sich verdunkelt, auch das „Angesicht des Herrn“, nach dem sie vor Jahrzehnten zu suchen begann, erscheint ihr dunkel und verzerrt. Der Verdacht beschleicht sie, dass ein Gott, der zulässt, dass Menschen in seinem Namen derart menschenverachtend handeln, nur ein Zyniker sein kann. Ellen Adler möchte Gott nicht mehr begegnen. „Einem solchen Gott möchte ich nicht ins Angesicht schauen“, sagt sie. „Mit einem solchen Gott möchte ich nicht die Ewigkeit verbringen.“
*Name geändert
Von Dorothee Wanzek