Begegnung auch in Coronazeiten
Heißgetränk per Bollerwagen
„Café Abstand“ ist eine Aktion des ka:punkt inmitten der City von Hannover. Den Anstoß dazu gab Wolfgang Sender. Eine besondere Rolle spielen dabei Brühe und ein umgebauter Bollerwagen. Die Idee: Begegnung auch in Coronazeiten.
Das riecht doch nach Suppe? Ein Geruch, den man nicht unbedingt im Café des ka:punkt, dem Treffpunkt der Katholischen Kirche in der Innenstadt von Hannover, vermutet. Doch jetzt steht Wolfgang Sender an einem großen Topf auf einer Kochplatte. Der 64-Jährige hat gerade Suppenpaste im heißen Wasser aufgelöst, schmeckt sie mit Instant-Hühnerbrühe ab: „Das bringt noch Salz und Würze rein“, meint Sender, der sich ehrenamtlich im ka:punkt engagiert.
„Normalerweise sind ja die Leute hierher gekommen, viele auch spontan auf einen Kaffee“, sagt Sender. Viele Cafébesucher haben gleich zwei Kaffees bezahlt: Einen für sich und eine zweite Tasse als Spende, die dann an einen Besucher ausgegeben werden konnte, der ihn nicht zahlen kann. Ein solidarisches Prinzip für die, deren Wohnzimmer die Innenstadt ist – egal bei welchem Wind oder Wetter. Ob nun obdachlos, auf Almosen hoffend, musizierend oder weil sie sonst nicht wissen wohin.
Doch mit Beginn der Pandemie ist natürlich auch das Café im ka:punkt geschlossen. Hoffnung, irgendwann wieder im Außenbereich zu öffnen, gab es immer wieder. Doch irgendwann war klar: So schnell geht das nicht. „Also brauchte es eine andere Idee“, sagt Sender. Wie aber kommt nun ein „Schluck Wärme“ coronagerecht aus dem ka:punkt in die Innenstadt?
Aus Resten baute Sender einen Aufsatz für einen Bollerwagen, damit Warmhaltekannen, Pappbecher, eine Milchflasche, Kekse und Bonbons sicher auf dem Pflaster der Innenstadt gekarrt werden können. Coffee-to-go einmal andersherum – oder eben Brühe per Bollerwagen.
Die klare Suppe ist fertig und wird in eine Thermoskanne gefüllt. „Die ist immer als Erstes weg“, berichtet Sender. Der Kaffee ist auch durch. „Brauchen wir noch roten Tee oder nur schwarzen?“, fragt Lucienne Christ. Die 70-Jährige ist heute mit Sender unterwegs: „Egal, ich mache beides“, sagt sie und zieht die Einmal-Handschuhe an. Die beiden sind eingespielt. Schnell füllt Christ noch den Behälter für die Zuckertüten auf, Sender befestigt eine Tüte für den Abfall. Maske auf, startbereit in Richtung Bahnhof.
Der erste Kaffee geht an einen Musiker. Ein älterer Mann, graues Haar blitzt durch die Strickmütze, graue Stoppeln durch die Maske. Die Lieder, die er auf dem Akkordeon spielt, klingen osteuropäisch. „Möchten Sie einen Kaffee, Tee oder Brühe?“, fragt Sender. Eine Frage, die er und Lucienne Christ in den nächsten zweieinhalb Stunden noch oft wiederholen. Der Musiker möchte Kaffee. „Mit Milch bitte.“ Und viermal Zucker zeigt er mit seinen Fingern an. „Das ist aber nicht gesund“, sagt Lucienne Christ. Sie füllt die vier Päckchen trotzdem ein. Denn sie weiß: Wer nichts im Bauch hat, nimmt auch Zucker gegen Hunger.
Die erste Brühe nimmt ein junges Paar, das etwas abseits auf einer Decke sitzt. Davor ein Pappbecher. Ein paar kleine Münzen sind drin. „Das ist gut, noch nichts gegessen heute“, sagen sie. Mehr nicht. Ihr Blick geht eher zu Boden. Scham? Verzweiflung? Furcht?
„Das ist etwas, was mich beim Weg durch die Innenstadt immer beschäftigt“, erzählt Wolfgang Sender. „Wir schauen Menschen an und blicken in Augen, in denen es keine Hoffnung mehr gibt.“ Da stelle sich für ihn die fast schon klassische Frage, warum es in einem wohlhabenden Land immer noch eine so große Zahl von Menschen gibt, die durch das soziale Netz fallen.
Christ und Sender werden freudig begrüßt: „Schön, dass ihr wieder da seid“, sagt der Mann, der die Obdachlosen-Zeitschrift Asphalt verkauft. Täglich steht er an diese Stelle, versucht das Blatt an die Passanten zu bringen. Er ist einer von knapp 80 Verkäufern im Stadtgebiet von Hannover, die vorher wohnungslos waren oder sind. Heute aber kein Kaffee für den Verkäufer: „Nicht gut für den Magen“, sagt er und lacht. Aber ein paar Bonbons nimmt er gerne.
So geht die Tour weiter. Immer wieder die Frage, immer wieder eine Antwort. Der Bettler, der gern die Brühe nimmt, die junge Frau mit Tattoos und Piercing, die sich fast schon euphorisch über den Kaffee und die Handvoll Kekse freut, sich wieder und wieder bedankt. Der Straßenmusiker, der tatsächlich roten Tee möchte und eine Pause einlegt. Der offenkundig verwirrte Mann, der in eine speckige Decke gehüllt durch die Innenstadt geht. Ohne Maske. Polizeibeamte sprechen ihn an, Christ und Sender helfen mit einer Maske aus.
Nächste Station Hauptbahnhof. Er wird zwischen den Reisenden und Pendlern durchquert. Ein Kaffee hier, eine Brühe da. Zwei Polizeibeamte lehnen das Angebot freundlich ab: „Aber da hinten sitzen Leute, die das sicher brauchen.“ Da hinten, am anderen Ende des Bahnhofs, hat auch die ökumenische Bahnhofsmission ihre Räume. Hier sitzen und stehen, ja wanken und schlafen auf dem nackten Boden Menschen, denen ihre Lebensgeschichte und Armut den Körper und das Gesicht gezeichnet haben.
Die Brühe ist alle. Mit dem letzten Kaffee und Tee geht es zum Raschplatz hinter dem Bahnhof. Der Ton um den Bollerwagen wird etwas rauer. Nicht dramatisch, aber Christ und Sender müssen auf den notwendigen Abstand und die Reihenfolge hinweisen.
Zwei kleine Spenden gibt es sogar an diesem Nachmittag. „Finde ich gut, was Sie machen“ sagt auf einmal ein junger Mann, wirft ein paar Münzen in eine Spendenbox. Das Solidarprinzip vom ka:punkt – zahle einen Kaffee und spende einen zweiten – funktioniert auch unterwegs.
Rüdiger Wala