Dieses Grundgebet jedes Juden hat auch Jesus gebetet
Höre, Israel, der Herr ist einzig
In ihrem Gespräch sind Jesus und der Schriftgelehrte sich schnell einig: Das „Höre, Israel“ zu beten, ist das wichtigste Gebot. Das ist für Juden noch heute so, sagt Rabbiner Walter Homolka. Und auch wann und wie sie es beten, ist im Buch Deuteronomium festgelegt.
Von Susanne Haverkamp
Die Sonntagslesungen aus dem Alten Testament sind in der Regel so ausgesucht, dass sie zum Sonntagsevangelium passen. An diesem Sonntag ist das besonders gut erkennbar. Im Gespräch mit einem Schriftgelehrten über das wichtigste Gebot zitiert Jesus das Buch Deuteronomium. Und genau diese Textstelle ist dann auch die Lesung.
"Höre, Israel! Der Herr, unser Gott, der Herr ist einzig. Darum sollst du den Herrn, deinen Gott, lieben mit ganzem Herzen, mit ganzer Seele und mit ganzer Kraft. "
„Wir nennen dieses Gebet kurz das ‚Schma‘ nach dem ersten Wort ‚Höre‘“, sagt Rabbiner Walter Homolka. „Es ist die absolute Grundlage, es durchzieht das ganze Leben und durchwirkt den Alltag.“ Doch genau genommen ist es gar kein Gebet. Es ist ein Bekenntnis: nämlich das zu dem einen und einzigen Gott. „Es wurde immer auch als Abgrenzung zu anderen Völkern und Religionen gebraucht“, sagt Homolka. Etwa zur Zeit des Alten Testaments, als Israel mehrmals von anderen Völkern besiegt wurde, die an andere (und viele) Götter glaubten.
Bis heute ist das Schma Jisrael ein Erkennungszeichen für alle Juden, ganz egal, ob orthodox oder liberal, vermutlich auch egal, ob gläubig oder nicht. „Ich bin auf dem Flughafen in Tel Aviv mal gefragt worden, ob ich das Schma beten könne“, erzählt Walter Homolka. „So wollten die Beamten testen, ob ich wirklich Jude bin.“
Dass das Schma Jisrael eine solche Bedeutung hat, hängt auch damit zusammen, dass nicht nur der Gebetstext überliefert ist, sondern auch die Ausführungsbestimmungen. Mose lehrt „im Auftrag des Herrn“ nämlich genau, was mit dem Text zu geschehen hat:
"Und diese Worte, auf die ich dich heute verpflichte, sollen auf deinem Herzen geschrieben stehen. Du sollst sie deinen Kindern wiederholen. Du sollst sie sprechen, wenn du zu Hause sitzt und wenn du auf der Straße gehst, wenn du dich schlafen legst und wenn du aufstehst. Du sollst sie als Zeichen um das Handgelenk binden. Sie sollen zum Schmuck auf deiner Stirn werden. Du sollst sie auf die Türpfosten deines Hauses und in deine Stadttore schreiben." (Deuteronomium 6,4-9)
Dieser Text, sagt Walter Homolka, werde sehr genau genommen. „Genau wie es dort steht, wird das Schma beim Aufstehen und Schlafengehen gebetet“, sagt er. Es wird den Kindern beigebracht, damit es nicht verloren geht. Es wird im Gottesdienst gesungen. Und vor allem wird es im Herzen getragen. „Das Schma ist ein sehr emotionales Gebet“, sagt Homolka, „es ist ein Herzensopfer.“ Und es ist das Gebet, das Juden beim Sterben auf den Lippen liegt. Heute, aber auch früher millionenfach in den Konzentrationslagern.
Aber noch andere jüdische Traditionen haben in diesem Text ihren Ursprung, etwa die Mesusa, zu Deutsch: Türpfosten. „Die Mesusa hängt an nahezu jedem jüdischen Haus“, sagt Walter Homolka. Und sie bleibt dort für immer. „Wenn man auszieht, nimmt man die Mesusa nicht mit“, so der Rabbiner. „Sie ist so heilig, dass sie nicht entfernt werden darf.“ In der kleinen Kapsel steckt ein Zettel mit dem Text des „Höre, Israel“. „Ein kleines Stück des Papiers soll oben herausschauen, damit man es immer sieht“, sagt Homolka. Und jedesmal, wenn man durch die Tür geht, berührt man die Mesusa. Ein Gebet zum Anfassen sozusagen.
Und dann sind da die Gebetsriemen, auf Hebräisch Tefillin. Sie sind die sichtbare Übersetzung der Anweisung Gottes: „Du sollst diese Worte als Zeichen um das Handgelenk binden. Sie sollen zum Schmuck auf deiner Stirn werden.“ Entsprechend gehören Lederriemen dazu, die fromme jüdische Männer – im liberalen Judentum teilweise auch Frauen – sich um Finger, Handgelenk und Arm wickeln, und ein Kopfteil, das man sich vor die Stirn bindet. Auch in den Tefillin sind kleine handgeschriebene Pergamente mit dem Schma Jisrael verborgen. Im Unterschied zur überall üblichen Mesusa werden die Gebetsriemen heute allerdings vor allem von orthodoxen Juden getragen.
Hatte Jesu Elternhaus eine Mesusa an der Tür?
Aber wie war das mit Jesus? Er zitiert im Gespräch mit dem Schriftgelehrten diese für den jüdischen Glauben so fundamentale Stelle. „Daran zeigt sich wieder einmal, dass Jesus im jüdischen Glauben ungebrochen zu Hause war“, sagt Walter Homolka. Bedeutet das aber auch, dass in Jesu Elternhaus in Nazaret eine Mesusa hing? Dass Jesus regelmäßig Gebetsriemen anlegte, um das Schma Jisrael zu beten? „Beweisen kann man das natürlich nicht“, sagt Rabbiner Walter Homolka. Aber da beides zur Zeit Jesu bekannt war, ist es zumindest nicht unwahrscheinlich. „In den Höhlen von Qumran haben Archäologen Beweise gefunden, dass von den Essenern zur Zeit Jesu Tefillin getragen wurden“, sagt Homolka. Und Jesus werden Kontakte zu den Essenern nachgesagt.
Und man kann noch eine Bibelstelle nennen. Im Matthäusevangelium (23,5) sagt Jesus über die Schriftgelehrten seiner Zeit: „Sie machen ihre Gebetsriemen breit und die Quasten an ihren Gewändern lang.“ Damit kritisiert er aber weniger ihre – nennen wir es: liturgische Kleidung –, als seine Erfahrung, dass äußerlicher und innerlicher Glaube nicht übereinstimmen, dass Heuchelei herrscht, „von außen schön anzusehen, aber von innen voller Unreinheit“ (Mt 23,27).
Sicher ist jedenfalls: Jesus selbst hielt genau das für das wichtigste Gebet: „Höre, Israel! Der Herr, unser Gott, der Herr ist einzig.“ Und Gott zu lieben mit ganzem Herzen, mit ganzer Seele und mit ganzer Kraft, für das wichtigste Gebot. Und den Nächsten zu lieben wie sich selbst.