Interview mit dem Kirchenhistoriker Stefan Samerski über seine Biografie von Alfred Bengsch
Hüter der Einheit
Am 10. September vor 100 Jahren ist Alfred Bengsch geboren. Jetzt ist die erste wissenschaftliche Biografie über den Berliner Erzbischof und Kardinal erschienen. Der Tag des Herrn sprach mit dem Autor, dem Kirchenhistoriker Stefan Samerski.
Alfred Bengsch, ein gebürtiger Berliner, leitete das heutige Erzbistum Berlin von 1961 bis zu seinem Tod 1979. Außerdem war er Vorsitzender der Berliner Ordinarien-, später Bischofskonferenz. - Foto: Archiv |
Herr Professor Samerski, worin besteht die Lebensleistung von Alfred Bengsch?
Alfred Bengsch wurde drei Tage nach dem Mauerbau Bischof von Berlin. Das war eine extreme Krisensituation, in der niemand wusste, wie es weitergeht. Mancher befürchtete gar einen dritten Weltkrieg. Hinzu kommt, dass es sich sein Vorgänger Döpfner gründlich mit den DDR-Oberen verdorben hatte. Es stand auf Messers Schneide, wie das Regime mit der Kirche umgehen würde. Man brauchte einen Neuanfang, um das grundlegende kirchliche Wirken zu sichern. Dazu kam später die vatikanische Ostpolitik. Der Vatikan war offensichtlich bereit, den Wünschen der DDR-Regierung entgegen zu kommen, die eine strukturelle Loslösung der katholischen Kirche in der DDR von der in der Bundesrepublik anstrebte. Das war völlig konträr zu Bengschs Vorstellungen. Weitere Herausforderungen waren die 68er-Bewegung und das Zweite Vatikanische Konzil. Bengschs Lebensleistung war es, dass die katholische Kirche in seinem Bistum und in der ganzen DDR diese Krisenjahre überleben konnte.
Ein starkes Motiv für Bengschs Handel war ja, die Einheit des Bistums Berlin zu wahren. Warum?
Der Einheitsgedanke bezieht sich nicht nur auf Berlin. Bengsch war die Einheit innerhalb der katholischen Kirche in der ganzen DDR wichtig. Er hatte Angst davor, dass es in der DDR zu ähnlichen Verhältnissen wie in der ČSSR kommen könnte. Dort hat es der Staat geschafft, mit den staatsnahen Pax-Priestern die Kirche zu spalten.
Ein Preis, den die Katholiken in der DDR dafür bezahlen mussten, war das Konzept der politischen Abstinenz. Die Kirche äußerste sich nur in wenigen Fällen zu politischen Fragen. Es war genau geregelt, welche Kleriker auf welcher Ebene mit den Staatsorganen sprechen durften. Und gesellschaftliches, gar politisches Engagement von Laienchristen war unerwünscht. Ist dieses Konzept aus heutiger Sicht plausibel?
Unter den damaligen Voraussetzungen - Kirche im Kommunismus - halte ich dieses Konzept für klug. Die Kirche vermied es so, Angriffsflächen zu bieten. Die politische Abstinenz hat Bengsch nicht nur im Osten praktiziert, sondern auch bei seinen Aufenthalten in Westberlin. Nicht alle katholischen Christen in der DDR, auch nicht alle seine bischöflichen Mitbrüder haben dieses Konzept verstanden. Gerade in der Jugend- und Studentenseelsorge gab es wachsende Widerstände, verstärkt noch durch das Konzil. Aber Bengsch hat damit die Kirche bis zu seinem Tod 1979 über alle Klippen gebracht und Schaden von ihr abgewendet. Bengsch selbst war klar, dass seine Haltung nicht von allen verstanden wird. Der Preis, den er ganz persönlich bezahlt hat, das war seine Gesundheit. Die Besuchstage im Westen - vollgepackt mit Terminen vom frühen Morgen bis zum späten Abend - haben seine Kräfte gefordert. Eine Aufstockung der Besuchstage in Westberlin durch die DDR hat Bengsch einmal mit den Worten kommentiert: „Die wollen mich noch umbringen!“
Es wird oft gesagt, die Kirche wollte die DDR-Zeit überwintern. Hatte Bengsch die Hoffnung auf ein baldiges Ende?
Kurz nach dem Mauerbau rechnete Bengsch nicht mit einer schnellen Änderung der Situation. Die Kirche muss sich hier einrichten. Das hieß für ihn aber nicht, dem DDR-Staat große Zugeständnisse zu machen. Allerdings war er auch kein Betonkopf oder Panzerkardinal. Sein Konzept der Einheitlichkeit brauchte auch eine gewisse Flexibilität. Trotzdem hat er manchmal mit der Faust auf den Tisch geschlagen, wenn seine bischöflichen Mitbrüder aus seiner Sicht rote Linien überschritten hatten.
Bengsch hat auf dem Konzil vehement gegen die Pastoralkonstitution über die Kirche in der Welt von heute „Gaudium et spes“ (GS) Position bezogen und am Ende sogar mit Nein gestimmt. Warum?
Dieses Dokument ist wohl von seiner Entstehungsgeschichte her das komplizierteste des Konzils. Es wurde immer und immer wieder geändert. Ständig kamen neue Themenkomplexe dazu. Bengsch hat frühzeitig dem Papst angekündigt, dass er eventuell mit Nein stimmen werde. In den ersten drei Konzilssitzungen stieß das Dokument auf weitgehende Ablehnung vieler Konzilsväter. Dann sollte das Konzil zu Ende gehen und man hat die Bischöfe wohl etwas überrumpelt, so dass viele überrascht waren, welche breite Mehrheit GS bekommen hatte.
Bengschs inhaltliche Bedenken betrafen die Formulierungen im Zusammenhang mit dem Kommunismus, die den Katholiken im Ostblock Probleme bereiten könnten. Außerdem sollte aus seiner Sicht ein Konzilstext Gültigkeit für Jahrhunderte haben. Aber GS ging auf Zeitfragen wie das atomare Wettrüsten oder die Kompetenzen der UNO ein. Das habe in 50 Jahren keine Relevanz mehr. Ihm fehlte hier der Bezug zum Evangelium. Der Text könne vielleicht eine Erklärung der Kirche sein, erfülle aber nicht den hohen Anspruch einer Pastoralkonstitution. Seine Ablehnung beruhte also weniger auf inhaltlichen als mehr auf formalen Gründen. Viele Bischöfe sahen das ähnlich, stimmten aber mit Ja, weil sie nach Hause wollten. Es war kurz vor Weihnachten. Bengsch ist konsequent bei seinem Nein geblieben.
Im Osten Deutschlands gab es nach dem Konzil zwei Synoden: die Meißner Diözesansynode und die DDR-weite Pastoralsynode. Bengsch habe dafür gesorgt, dass die Meißner Synode nicht zu Ende geführt wurde. Und die Ergebnisse der Pastoralsynode - so sagen heute viele - seien ungenügend umgesetzt worden. Insgesamt sei das Konzil in der katholischen Kirche in der DDR nur ungenügend rezipiert worden. Ist diese Einschätzung richtig?
Die Einschätzung, dass Bengsch nur der große Bremser war, wird ihm nicht gerecht. Bengsch hat das Konzil mitgetragen, später sogar GS. In seinen Predigten finden sich viele Begriffe und Gedanken daraus. Er sorgte dafür, dass die Texte veröffentlicht werden - bis weit in den damaligen Ostblock hinein. Aber er wollte, dass die Texte kritisch und theologisch reflektiert werden. So hat er zum Beispiel als einer der Ersten zur Liturgiekonstitution einen Kongress abgehalten, um die Frage zu klären, was heißt das für uns und wie setzen wir das um. Dann kamen die 68er, die viel herumexperimentierten und manches taten, was aus seiner Sicht theologisch nicht rückgebunden war. Die beiden von Ihnen angesprochene Synoden muss man in diesem Kontext sehen. Bengsch hatte schon eine Reihe negativer Erfahrungen in der Umsetzung des Konzils, die ihm theologisch nicht gepasst haben. Dazu kommt, dass er sich auch hier um die Einheit der Kirche sorgte und dem DDR-Regime nicht in die Hände spielen wollte. Er wollte nicht, dass die Kirche in Magdeburg das eine tut, und die Kirche in Dresden etwas anderes.
War Bengsch ein Machtmensch?
Autorität war ihm wichtig. Der Heilige Vater war ihm eine Autorität. Als er mindestens einmal nicht zur Audienz vorgelassen wurde, hat ihn das bis ins Mark getroffen. Im Gegenzug erwartete er, dass die Leute auch seine Autorität achteten und das machten, was er angeordnet hatte. Wichtig war ihm die Sache und wichtig war es ihm, seiner Verantwortung gerecht zu werden. Hirte zu sein und seine Schäfchen ins nächste Jahrhundert zu führen. Bengsch konnte hart sein, er hatte seine Ecken und Kanten, aber er war den Menschen zugewandt. In Konflikten hat er immer das persönliche Gespräch gesucht. Ich habe keine Belege gefunden, wo er strikt einfach Gehorsam gefordert hätte. Von vielen wurde er übrigens gerade deshalb geschätzt, weil er entscheidungsfreudig war.
Ihre Biografie erscheint in dem Moment, in dem das Erzbistum seine Missbrauchsstudie veröffentlicht hat. Dort werden auch mehrere Fälle aus der Bengsch-Zeit genannt. Welche Auswirkungen hat das?
Ich habe einige wenige Gedanken noch in die Biografie mit aufnehmen können. Aber hier sind weitere wissenschaftliche Forschungen notwendig, vor allem historisch-kritischer Art - mit der Kenntnis der kirchlichen Interna und dessen, was das Kirchenrecht sagt. Gefunden habe ich, dass Bengsch dann, wenn er Kenntnis von Missbrauchsfällen hatte, den persönlichen Kontakt gesucht hat. Ob er immer alles richtig gemacht hat, diese Frage ist offen. Bedenken müssen wir allerdings, dass unsere heutigen Maßstäbe nicht diejenigen der 60er und 70er Jahre sind. Für den Historiker gilt: Eine bestimmt Epoche muss nach den Maßstäben dieser Epoche bewertet werden. Wir können ja auch nicht die Maßstäbe unseres freiheitlich-demokratischen Rechtsstaates auf die Zeit von Karl dem Großen übertragen. Für die Kirche in der DDR kommt hinzu, dass Fälle sexuellen Missbrauchs, die vor die staatliche Gerichtsbarkeit gekommen wären, dem Regime mit seiner kirchenfeindlichen Politik massiv in die Hände gespielt hätten. Das alles muss bei historisch-kritischer Aufarbeitung mit bewertet werden.
Fragen: Matthias Holluba
Buchhinweis: Stefan Samerski: Alfred Bengsch – Bischof im geteilten Berlin; Verlag Herder Freiburg 2021, ISBN: 978-3451388200, 38 Euro