Auch im 21. Jahrhundert gibt es christliche Märtyrer
Hunderttausend pro Jahr
Von Christian Feldmann
Das Sonntagsevangelium kündigt es knallhart an: Wer Jesus nachfolgt, kann dabei sterben. So wie Jesus selbst, müssten seine Jüngerinnen und Jünger ihr Kreuz auf sich nehmen und vielleicht sogar ihr Leben um seinetwillen verlieren. Und Jesus hat recht: Sogar im 21. Jahrhundert gibt es noch christliche Märtyrer.
Saint-Etienne-du-Rouvray, eine kleine Pfarrkirche am Rand von Rouen in der Normandie, am 26. Juli 2016. Der 85-jährige Priester Jacques Hamel feiert die Morgenmesse mit fünf Gläubigen, drei davon greise Nonnen, die sich um einsame Menschen im Viertel kümmern und eine Hausaufgabenbetreuung für muslimische Kinder organisieren. Ein Rentner-Ehepaar sitzt in der vorderen Kirchenbank, der Mann begeht heute seinen 87. Geburtstag und beide freuen sich auf ihre diamantene Hochzeit in zwei Jahren.
Den alten Priester, der den Gemeindepfarrer während dessen Urlaub vertritt, haben alle gern. „Seine Güte und Bescheidenheit rührten uns“, wird sich später jemand erinnern, „sein Gesicht strahlte Liebe und Zärtlichkeit aus. Sein Leben ist einfach, aber er berührt das Herz derer, die ihm begegnen.“ Jacques Hamel ist ein Geistlicher nach dem Herzen von Papst Franziskus: Sein ganzes Leben hat er in der „spirituellen Wüste“ in der Peripherie von Rouen verbracht, wo die Arbeitslosigkeit hoch und das Bildungsniveau niedrig ist, wo immer mehr Menschen aus dem Maghreb und Schwarzafrika einwandern. Für die Kirche interessiert sich hier kaum jemand.
Jacques Hamel ist das egal, seine Tür steht immer offen, die Obdachlosen und Haftentlassenen kennen ihn, mit der muslimischen Gemeinde arbeitet er vertrauensvoll zusammen. Er fährt einen uralten Renault ohne Elektronik, den er selbst reparieren kann, ärgert sich über den Luxus in konservativen Kirchenkreisen, träumt dezent von Veränderungen und denkt nicht daran, sich zur Ruhe zu setzen. Er liebt den Gottesdienst, den er auch vor so einer winzigen Gemeinde mit aller Feierlichkeit zelebriert, er hat immer noch eine schöne Stimme und singt, als handle es sich um ein Hochamt in einer Kathedrale.
Auch Muslime nahmen an Trauerfeiern teil
„Geht hin im Frieden Christi!“ Während er die Messe würdevoll, aber lächelnd beendet, stürmen zwei schwarz gekleidete junge Männer in die Kirche, schreien auf Arabisch und Französisch, die Christen seien Feinde der Muslime, reißen die Osterkerze vom Leuchter und ein Kruzifix von der Wand, stechen wie von Sinnen auf den Altar ein – und dann auch auf Jacques Hamel und den 87-jährigen Rentner.
Während das Geburtstagskind wie durch ein Wunder überlebt, stirbt Hamel an seinen Verletzungen. Seine Mörder werden beim Verlassen der Kirche von einer inzwischen alarmierten Anti-Terror-Einheit der Polizei erschossen. Eine der Ordensschwestern erzählt, der eine habe nach der Messerattacke plötzlich ganz ernsthaft mit ihr über den Koran und den Frieden gesprochen und einen sehnsüchtigen Gesang angestimmt: „Es war so sanft – man spürte seine Freude, ins Paradies zu kommen.“
„Einen Priester zu töten, bedeutet, die Republik zu entweihen, die die Meinungsfreiheit garantiert“, erklärte der aus Rouen stammende damalige Staatspräsident François Hollande. Und ganz Frankreich, wo Staat und Kirche streng getrennt sind, war sich einig in der Trauer. Auch die Muslime – hatten die beiden 19-jährigen Mörder ihr wahnwitziges Weltbild doch in keiner Moschee, sondern im Internet gelernt. Überall in Frankreich nahmen am nächsten Sonntag Gruppen von Muslimen an christlichen Gottesdiensten teil; in Hamels Kirche wurde ein Bild des Toten mit Heiligenschein aufgestellt, das ein Muslim gemalt hatte.
"Unsere Kirche ist eine Kirche der Märtyrer"
Hollywoodfilme, historische Krimis, die Fresken und Reliquienschreine in den Kirchen: Sie alle transportieren immer noch das falsche Bild von einer längst vergangenen Märtyrerzeit, die unter den römischen Kaisern und mittelalterlichen Gewaltherrschern ihre Opfer gefordert und spätestens nach den Exzessen der Französischen Revolution ihr Ende gefunden habe. Um in den Diktaturen des 20. Jahrhunderts, unter Hitler, Stalin, Mao, noch einmal aufzuflammen, richtig. Aber seither?
„Heute, im 21. Jahrhundert, ist unsere Kirche eine Kirche der Märtyrer“, stellte Papst Franziskus fest. Er kann sich auf eine Fülle seriöser Studien berufen, die alle dasselbe aussagen: Das Christentum ist heute die am meisten verfolgte Glaubensgemeinschaft der Welt. Rund 500 Millionen Christen – einer von fünf Christen weltweit – leben in Ländern, in denen sie diskriminiert, bedroht, inhaftiert, getötet werden. Das sind nach den aktuellen Zahlen 144 Länder. Pro Jahr wurden im letzten Jahrzehnt jeweils um die 100 000 Christen hingerichtet, gelyncht, massakriert, zu Tode gefoltert.
Am 20. Oktober 2012 rasten Terroristen mit dem Auto in eine vollbesetzte Kirche in Kaduna, im Norden Nigerias. Im Auto hatten sie eine Bombe, die sofort detonierte. Vier junge Leute aus dem Kirchenchor waren auf der Stelle tot, Hunderte wurden verletzt. In Nigeria leiden vor allem christliche Bauern unter den blutigen Attacken eines muslimischen Nomadenstammes; die Verfolgung hat natürlich auch wirtschaftliche Gründe. So wie jetzt, als zu Pfingsten erneut Christen in Nigeria beim Gottesdienst angegriffen wurden; bis zu 100 von ihnen starben.
Am 7. April 2014 drangen maskierte Männer im syrischen Homs in das Haus der Jesuiten ein und töteten den niederländischen Pater Frans van der Lugt (75) mit Kopfschüssen. Der Priester hatte mit vielen Freiwilligen im „Tal der Christen“ Verfolgten und Vertriebenen geholfen und ein kleines Krankenhaus betrieben, wo jeden Monat 5000 Menschen behandelt und operiert wurden.
Am 3. Juni 2007 stürmten schwer bewaffnete Angreifer eine chaldäisch-katholische Kirche in Mossul, Irak. „Ich habe dich gewarnt“, brüllte einer den Priester Raghed Ganni (35) an, „wenn du die Kirche für die Menschen öffnest, bist du tot!“ – „Wie kann ich das Haus Gottes schließen?“, entgegnete Ganni – und starb im Kugelhagel, wie auch drei Amtsbrüder. Der „Islamische Staat“ ist im Irak mittlerweile besiegt, der Exodus der Christen hält an: 2003 lebten hier noch 1,5 Millionen Christen, heute sind es gerade mal 20 000.
Und der Westen schweigt
Das Schlimmste dabei ist vielleicht das fast totale Schweigen des Westens. Das Schicksal von Menschen, die wegen ihres Glaubens ihr Leben verlieren, scheint für Politiker, Leitartikler, bisweilen sogar Bischöfe ein Tabu zu sein. Aus falsch verstandener Toleranz – als ob sich gewaltbesessene Islamisten nicht selbst aus ihrer Religion ausgeschlossen hätten – und aus schlechtem Gewissen gegenüber den einst vom Westen kolonisierten, ausgebeuteten und zwangsmissionierten Ländern schließt man Augen und Ohren. Terror und Tod sind ja so weit weg.