Auf Antisemitismus im Alltag reagieren

"Ich muss eine klare Grenze ziehen"

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Judenfeindliche Sprüche kommen nicht nur aus rechtsextremen Kreisen. Antisemitismus gibt es auch in der Mitte der Gesellschaft – und er nimmt zu. Eine  Initiative entlarvt Antisemitismus im Alltag und zeigt, wie man dagegen angehen kann.

Grafik: istockphoto.com, nonohana / K. Kolkmeyer
Mal offen, mal versteckt: Antisemitische Äußerungen
nehmen in der Gesellschaft zu.
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Judenfeindliche Hetze und Sprüche nehmen in Deutschland zu – vor allem im Internet, in den Kommentarspalten und sozialen Medien. Eine Langzeitstudie der Technischen Universität Berlin zeigt, dass sich seit 2007 die Zahl antisemitischer Kommentare auf großen Nachrichtenportalen verdreifacht hat. Und manchmal werden aus Worten Taten: Im vergangenen Jahr registrierte die Polizei 1646 judenfeindliche Straftaten. Das ist ein Anstieg von knapp zehn Prozent im Vergleich zu 2017. Josef Schuster, der Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, sagte jüngst, dass die Deutschen sich dieses Problems nicht bewusst seien: „Es herrscht die Haltung vor: Ich nehme zur Kenntnis, was da passiert ist. Aber darum soll sich die Politik kümmern.“

Manfred Levy will nicht auf die Politik warten. Mit Wissenschaftlern, Politikern, Journalisten und Vertretern des Zentralrats der Juden und des Zentralrats der Muslime engagiert er sich für das Projekt stopantisemitismus.de. Die antisemitischen Äußerungen, die die Gruppe auf ihrer Internetseite sammelt, stammen nicht aus dem rechtsextremen Milieu, sondern von Schülern, Polizisten, Angestellten, Rentnern. „Antisemitismus gibt es in der Mitte der Gesellschaft“, sagt Levy. Die Experten zeigen, was an den Sätzen judenfeindlich ist – und wie Menschen auf solche Äußerungen reagieren sollten.

Wenn jemand im vollen und stickigen Bus sagt: „Das ist hier ja heiß bis zur Vergasung.“ Oder wenn sich Jugendliche mit „Du alter Jude“ beschimpfen. Oder wenn jemand anmerkt: „Sie sehen ja gar nicht jüdisch aus.“ Manfred Levy hat selbst schon Anfeindungen erlebt. Er erzählt, dass erst kürzlich eine Bekannte einen Brief erhalten hat, in dem stand, dass die Juden selbst die Schuld am Holocaust trügen. Auch er hat schon ähnliche Briefe bekommen. „Darin stehen Sätze, da bekomme ich das kalte Grausen“, sagt Levy, der als Teamleiter Bildung am Jüdischen Museum in Frankfurt am Main arbeitet. „Und die Leute haben kein Problem, ihren Namen darunterzusetzen. Das ist schon eine Enthemmung, die gerade passiert.Das hat auch mit dem Rechtspopulismus und dem Erstarken der Rechten zu tun.“

„Man muss laut reagieren und andere aufmerksam machen“

Was aber kann jeder Einzelne tun, wenn er im Alltag antisemitische Sprüche hört? „Ich muss ein Stoppsignal setzen. Ich muss eine klare Grenze ziehen und zeigen, dass Antisemitismus nicht in Ordnung ist“, sagt Levy. Niemand dürfe wegschauen oder weghören. Man müsse die eigene Scheu vor Konflikten überwinden und sich einmischen, sagt er. Er weiß von einem Jungen, der einen Davidstern trug und im Wartezimmer eines Arztes von einer älteren Dame beschimpft wurde: „Ach, dich haben sie nicht vergast.“ Levy sagt: „Da muss man laut reagieren. Man muss andere darauf aufmerksam machen und sagen: Ey, das geht so nicht!“

Er betont: „Die Mehrheitsgesellschaft muss kapieren, dass Antisemitismus kein Problem von Juden ist. Es geht um unsere Demokratie, um unsere Werte und darum, sie zu verteidigen. Da sind alle gefordert. Da muss sich nicht nur die jüdische Seite kümmern.“

Kerstin Ostendorf