Gebet und Verzweiflung

Ich soll jetzt beten?

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„Jetzt ist meine Seele erschüttert“, sagt Jesus im Evangelium. Er ahnt, was ihn nach dem Passahfest erwarten wird: die Schmerzen, die Trauer, die Angst vor dem Tod. Elisabeth Kölker hat ihre Tochter verloren. Sie kennt dieses Gefühl.

Elisabeth Kölker blättert durch ein Fotoalbum mit Bildern ihrer verstorbenen Tochter.
Nach wie vor spürt Elisabeth Kölker den Verlust. Aber inzwischen denkt sie auch
mit Dankbarkeit an die Zeit mit ihrer Tochter zurück.

Von Kerstin Ostendorf 

Ein furchtbares Gefühl. Wenn die Welt um einen einstürzt. Wenn die Seele in ihren Grundfesten angegriffen wird. Wenn man hofft, jemand könnte diesen Schrecken beenden. Elisabeth Kölker hat vor 16 Jahren ihre Tochter Kathrin verloren. „Von jetzt auf gleich war das Leben für uns anders“, sagt die 62-Jährige aus dem westfälischen Recke. 

Kathrin, die in Münster Soziale Arbeit studiert, hat eben die letzte Prüfung des Semesters gemeistert, als sie mit Luftnot ins Krankenhaus muss. Die Ärzte diagnostizieren eine Lungenembolie. „Im Krankenhaus sagte Kathrin meinem Mann und mir, wir sollten uns keine Sorgen um sie machen. Sie schaffe das schon“, sagt Kölker. „Das waren ihre letzten Worte.“

Die Ärzte operieren Kathrin, um das Blutgerinnsel zu lösen. Mehrmals muss sie dabei wiederbelebt werden. Dennoch sind die Ärzte mit der OP zufrieden und machen der Familie Hoffnung, dass Kathrin es schaffen kann. „Es war Aschermittwoch und ich bin zuallererst mit einem großen Blumenstrauß zur Muttergottes in unsere Kirche gegangen: Danke, dass du Kathrin beschützt hast.“

Die Frage quält: Warum musste Kathrin sterben?

Doch wenige Tage nach der Operation verschlechtert sich der Zustand ihrer Tochter. Die Ärzte machen jede Hoffnung zunichte. „Sie sagten, ihr Gehirn arbeite nicht mehr. Nur die Maschinen würden sie am Leben halten“, sagt Kölker. Ludger Jonas, damals der Gemeindepfarrer in Recke, kommt ins Krankenhaus, um die Familie zu unterstützen. „Er sagte mir damals: Frau Kölker, Sie müssen die Nabelschnur noch mal durchschneiden. Sonst kann Ihre Tochter nicht gehen“, sagt Kölker. Die Worte schmerzen unglaublich. „Ich habe Kathrin gesagt: Ich würde alles für dich tun. Ich würde dich pflegen, bis ich nicht mehr kann. Aber wenn es  nicht mehr geht, dann lasse ich dich gehen.“

Was dann passiert, weiß Elisabeth Kölker nicht mehr genau. „Wir haben das Zimmer verlassen. Ich sehe mich draußen stehen und ich weiß, dass ich nur geschrien habe“, sagt sie. Als der Pfarrer vorschlägt, zum Gebet in die Krankenhauskapelle zu gehen, reagiert sie barsch: „Ich habe ihn gefragt: Ich soll jetzt beten? Was glauben Sie eigentlich?“

Die ersten Tage nach Kathrins Tod verschwimmen, von der Beerdigung weiß Kölker vieles nur aus Erzählungen. Verwandte und Freunde kümmern sich, unterstützen sie, ihren Mann und die beiden jüngeren Töchter. „Auch Pastor Jonas ist wochenlang bei uns ein- und ausgegangen. Ohne ihn hätte es keiner von uns geschafft, mit Kathrins Tod fertig zu werden“, sagt Kölker.

Im Evangelium bittet Jesus: „Vater, rette mich aus dieser Stunde.“ Oft hat auch Elisabeth Kölker diesen Gedanken, hofft, alles sei nur ein böser Traum, aus dem sie erwachen wird. Vor allem eine Frage quält sie: Warum? Warum musste Kathrin sterben? Warum musste sie so leiden? Kölker ringt um ihren sonst so festen Glauben. In der Kirche hört sie bei den Evangelien und Lesungen genau zu, legt jedes Wort auf die Goldwaage. 

Verwandte und Freunde lassen nicht locker

„Damals konnte ich das Vaterunser nicht sprechen. Dein Wille geschehe, wie im Himmel so auf Erden? Wie kann Gott bestimmen, was hier auf Erden mit meinem Kind und mit meiner Familie passiert?“, sagt Kölker. Bis heute kann sie am Gründonnerstag das Lied „Beim letzten Abendmahle“ nicht mitsingen. Bei der Zeile „Er ging hin für uns zu sterben“ müsse sie oft weinen, sagt Kölker. „Kathrin ist gewissermaßen für unsere Familie gestorben.“ Die plötzlich auftretende Embolie ist durch einen Gendefekt ausgelöst worden, der bis dahin unentdeckt war. „Weil Kathrin gestorben ist, wissen wir heute, dass wir wegen unserer Blutgerinnung zum Beispiel auf Reisen vorsichtig sein müssen“, sagt Kölker.

Ganz langsam kämpft sich die Familie damals in ein normales Leben zurück. Eine besondere Stütze sind die Verwandten und Freunde, die häufig zu Besuch kommen, zuhören, sie einladen – oder einfach zum Kegelabend abholen. „Sie haben nicht lockergelassen – und das war gut. Sonst wären wir zu Hause alle depressiv geworden“, sagt Kölker. 

Der Pfarrer macht Mut: „Ihr Glaube hilft Ihnen“

Und manchmal helfen auch harsche Worte: „Zu Anfang hatte ich das Gefühl, es nicht zu schaffen. Ich wollte nicht mehr leben, wollte bei Kathrin sein“, sagt Kölker. Eine Bekannte mahnt, sie dürfe nicht vergessen, dass sie noch zwei Kinder habe, für die sie da sein müsse. „Ich bin richtig wütend geworden. Aber heute bin ich der Frau dankbar. Sie hat mir die Augen geöffnet.“ Ebenso der Leiter der Grundschule, in der sie als pädagogische Fachkraft arbeitet, der einige Wochen nach Kathrins Tod anruft und sagt, sie solle wieder zur Arbeit kommen. „Auch das war gut. Zu Hause dreht man sich immer nur um die gleichen Gedanken.“

Elisabeth Kölker ist nicht verbittert, ihre Familie ist am Tod der ältesten Tochter nicht zerbrochen. „Im Gegenteil“, sagt Kölker. „Wir halten noch fester zusammen.“ Sie spürt immer noch den Verlust, ist traurig, wenn sie Freunde von Kathrin trifft, die mittlerweile geheiratet und Kinder bekommen haben.

Vor allem aber ist sie dankbar, wenn sie an ihre Tochter denkt: „Ich danke Gott für die 22 Jahre, die wir mit Kathrin hatten. Für all das Schöne, das wir erlebt haben. Und ich bin dankbar für das, was Kathrin erleben durfte. Dass sie verliebt war, dass sie einen Freund hatte, dass sie reisen konnte.“ 

Dass sie diese Sicht für sich gewonnen habe, habe sie ihrem Glauben zu verdanken und den vielen Gesprächen mit dem Pfarrer, der ihr immer Mut gemacht habe, sagt Kölker. „Er sagte immer wieder: Irgendwann schaffen Sie das. Der Glaube hilft Ihnen.“ Das Glaubensbekenntnis spricht Kölker heute ganz bewusst: „Ich glaube an die Auferstehung. Ich glaube daran, dass, wenn ich sterbe, wenn ich meinen Weg gehen muss, sie da stehen wird. Kathrin wird auf mich warten.“