Gespräch mit dem Dogmatiker Bertram Stubenrauch über die Liebe Gottes
Ihr seid auserwählt!?
Foto: imago/imagebroker
Herr Professor Stubenrauch, was Paulus da sagt, heißt das, dass Gott einige auswählt und andere nicht?
Nein, das heißt es nicht. Die Bibel ist eine Heilslehre, eine frohe Botschaft und die lautet ziemlich eindeutig: Alle sind berufen. Gott hat die Welt gemäß seinem Ratschluss so geschaffen und im Voraus bestimmt, dass jeder Mensch trotz aller Verfehlungen zu ihm finden kann.
Finden kann, nicht finden wird?
Genau, finden kann! Einen Heilsautomatismus gibt es nicht. Gott hat uns zum Heil berufen, aber ob wir der Berufung folgen, ob wir eine personale Beziehung zu Gott aufbauen, ob wir die Chance nutzen – das liegt an jedem Einzelnen von uns. Die Freiheit und die Verantwortung der Einzelnen werden nicht angetastet.
Aber ist die Bibel nicht voll von Sätzen über „das auserwählte Volk“, über Gottes besondere Lieblinge?
Wenn im Alten Testament das Volk Israel als auserwähltes Volk bezeichnet wird, dann ist das nicht als Gegensatz zu anderen Völkern gemeint, die Gott nicht liebt. Es ist eher exemplarisch zu verstehen: An dem konkreten Beispiel Israel kann man erkennen, wie Gott die ganze Menschheit liebt. Das wird an vielen Stellen im Alten Testament deutlich. Zum Beispiel, wenn Gott zu Abraham sagt: Durch deine Nachkommen soll allen Völkern Segen zuteilwerden. Alle sind zum Heil berufen.
Und niemand zum Unheil? Wie ist das zum Beispiel mit Judas? „Musste nicht das alles geschehen“, heißt es bei Lukas.
Es ist nie ratsam, aus einzelnen Bibelversen eine Geschichtsphilosophie zu machen, die Gott in eine bestimmte Logik presst. Der Satz will keineswegs sagen, dass Gott alles erzwingt, den Verrat des Judas eben. Es ist mehr ein missionarischer Aufruf zum Vertrauen in Gottes Liebe. Dass jemand zum Unheil bestimmt ist, verworfen von Geburt an, das ist ganz und gar unbiblisch. Die letzte Bestätigung dafür haben wir ja durch Jesus. Er war kein Apokalyptiker, der glaubt, dass irgendwann die böse Welt untergeht und nur die Guten übrig bleiben. Er verheißt eine Zukunft für alle Menschen.
Und doch gibt es diese Lehre von der Vorherbestimmung, der Prädestination.
Sie ist Folge von theologischen Spekulationen. So richtig es ist, über die Bibel nachzudenken – es kann auch in die falsche Richtung gehen.
Und wer ist wo falsch abgebogen?
Augustinus. Er hat ein Gottesbild, in dem Gott der einzig Handelnde ist. Er hat das Konzept von der Alleinwirksamkeit Gottes entwickelt und das ist schon problematisch. Allwirksamkeit – das wäre ja verständlich: dass Gottes Geist in allen und allem wirkt. Aber Augustinus spricht eben von der Alleinwirksamkeit Gottes.
Wie kommt er dazu?
Theologinnen und Theologen sind Menschen mit konkreter Geschichte und Erfahrungen, deshalb ist Theologie eigentlich immer biografisch zu verstehen. Bei Augustinus ist ein Punkt, dass er mit der Frage rang, warum nicht alle Menschen den Glauben annehmen, den er für so klar und richtig hielt. Seine Antwort war: Weil Gott die einen für den Glauben und das Heil vorherbestimmt hat und die anderen nicht. Aber das ist seine Spekulation. Und je mehr er in theologische Streitigkeiten verwickelt und angegriffen wurde, desto radikaler wurden seine Überzeugungen. Da war viel Pulverdampf im Spiel.
Einflussreicher Pulverdampf ...
Auch deshalb, weil Thomas von Aquin, der einflussreiche Theologe des Mittelalters, diese Gedanken übernommen hat – wenn auch ruhiger und ausgewogener. Thomas hat bibelgemäß gesagt, dass ursprünglich alle Menschen zum Heil bestimmt waren. Aber auch, dass Gott sie nachfolgend aufgrund ihres Verhaltens für das Heil oder das Unheil bestimmt.
Dann kam die Reformation – und die Prädestination wurde typisch evangelisch.
Das lag einerseits daran, dass Martin Luther, ein Augustinermönch, sehr von Augustinus geprägt war. Auch Luther glaubte an die Alleinwirksamkeit Gottes und dann kommt man schnell in die Nähe des Gedankens, dass alles vorausbestimmt ist.
Was Johannes Calvin dann auf die Spitze getrieben hat.
Er lehrte die doppelte Prädestination: Von Ewigkeit her sind die einen zum Heil und die anderen zum Unheil bestimmt. Und damit sind wir weit vom biblischen Kern entfernt, da wird die frohe Botschaft plötzlich sehr verdunkelt.
Wird das immer noch so gesehen? Ist das Thema im ökumenischen Gespräch?
Ich kann nicht für den Calvinismus generell sprechen, aber ich habe den Eindruck, dass die doppelte Prädestination nicht mehr verkündet wird, eher ist sie in einige evangelikale Bewegungen abgewandert. Im ökumenischen Gespräch können sich alle auf die Linie des großen reformierten Theologen Karl Barth einigen, der sich intensiv mit dem Römerbrief und auch mit diesen Stellen zur Vorherbestimmung beschäftigt hat. Für ihn ist Gott der Inbegriff der Gnade. Er hat in Christus alle Menschen zum Heil bestimmt – wobei es an uns liegt, diese Bestimmung zu verwirklichen.
Wenn wir jetzt einmal quer durch die Theologiegeschichte gegangen sind, kommt mir schon die Frage: Ist es nicht anmaßend, im Detail lehren zu wollen, wie Gott zu handeln hat?
Ja, das ist natürlich die Versuchung eines prinzipiellen Denkens. So richtig es ist, dass wir über die biblischen Quellen und auch über Gott nachdenken: Theologie ist nicht der Inbegriff des Wissens über Gott. Theologie ist immer subjektiv bestimmt, deshalb gibt es Gott sei Dank verschiedene Ansätze, die sich auch gegenseitig korrigieren. Wenn man das anerkennt, wird man gelassener. Und friedfertiger.