"Alte Mauern, neues Leben": Guxhagen

Isolationszellen im Kirchturm

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„Alte Mauern – neues Leben“: Einmal im Monat führt diese Reiseseite zu Stätten, an denen einst kirchliches Leben blühte. Im ehemaligen Kloster Breitenau in Guxhagen waren während der Nazi-Zeit rund 9000 politisch Verfolgte inhaftiert. Eine Gedenkstätte erinnert heute daran. Von Evelyn Schwab



Das ehemalige Kloster Breitenau an der Fulda in Guxhagen.


Beeindruckende Maße: Eine romanische Basilika, 54 Meter lang und 18 Meterbreit. Im umgebauten Mittelschiff sind Gefangene untergebracht. Das Konzentrationslager Breitenau entsteht bereits kurz nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten. Am 16. Juni 1933 treffen die ersten 28 „Schutzhäftlinge“ ein. Volk und Staat sollen vor diesen Menschen geschützt werden. Es handelt sich um politische Gegner: Sozialdemokraten, Kommunisten und Gewerkschaftsangehörige aus dem Regierungsbezirk Kassel. Und auch um verfolgte Juden. Bis März 1934 zählt man in Breitenau insgesamt 470 Häftlinge. Die meisten von ihnen werden nach vier bis acht Wochen wieder entlassen. Ein Viertel der Gefangenen kommt ab Oktober 1933 in größere Konzentrationslager.
Ab Mai 1940 hat es erneut ein Zwangslager in Breitenau gegeben. In diese Terror-Stätte der Kasseler Geheimen Staatspolizei kommen 8304 Gefangene. Ende der 1970-er Jahre fördert die Stadt Kassel ein Forschungsprojekt zu ihrer eigenen Vergangenheit im Nationalsozialismus an der dortigen Gesamthochschule. Geleitet wird es von Dietfrid Krause-Vilmar, Professor für Erziehungswissenschaften, Jörg Kammler, Professor für Politikwissenschaft, und Wilhelm Frenz, Professor für Geschichtsdidaktik. Über den Kontakt zu Max Mayr, einen ehemaligen politisch Verfolgten, entdecken die Forscher im Keller des einstigen Verwaltungsgebäudes von Breitenau eine Menge alter Akten über ein „Arbeitserziehungslager“, das bis 1945 bestand. Zwischen sechs Wochen und drei Monaten dauert der Haftaufenthalt meist. Eingesperrt werden ausländische Zwangsarbeiter und deutsche Gestapo-Gefangene, darunter Frauen mit „verbotenem Umgang“ zu Ausländern. Und wiederum Jüdinnen und Juden, die von Breitenau aus  in  die  Konzentrationslager  Ravensbrück, Buchenwald, Sachsenhausen oder Auschwitz überstellt werden.

Was die Gefangenen in die Wände ritzten

Die „Projektgruppe Breitenau“ deckt nach und nach mehr Details auf und gestaltet eine Wanderausstellung, die 1982 erstmals in der historischen Zehntscheune des ehemaligen Klostergeländes gezeigt wird. Der Landeswohlfahrtsverband Hessen und die Gesamthochschule Kassel sorgen dafür, dass die Arbeit der Gruppe verstetigt wird. Im September 1984 entsteht die Gedenkstätte Breitenau. Sie erinnert an den Alltag der Gefangenen: Arbeitstage über zwölf Stunden bei unzureichender Verpflegung und Versorgung, um den Widerstandswillen zu brechen. An den Folgen der Haftbedingungen sterben 26 Menschen, vier verlieren während der Arbeitseinsätze ihr Leben. Drei Gefangene begehen Suizid. Bei zwei weiteren Toten sind die Umstände unklar. Noch kurz vor der Befreiung der Opfer ermordet die Gestapo 28 weitere Menschen unweit des Lagers.
Im rechten Turm der alten Benediktinerklosterkirche befinden sich ehemalige Arrestzellen. Etwa vier mal vier Meter breit und in drei Geschossen übereinander angeordnet. Die Turmwände sind über einen Meter dick. Kleine hoch angelegte Fenster können verdunkelt werden. Arrest bedeutet hier Isolation, den kompletten Abschluss von der Außenwelt. Die Eingeschlossenen hinterlassen Einritzungen im Putz der Wände.
Historikerin Anika Manschwetus widmete den Graffiti in den ehemaligen Breitenauer Isolierzellen ihre Abschlussarbeit. Sie untersuchte dazu rund 300 Inschriften, die auch einander überlagern. Namen von Inhaftierten, Arrestzeiten, Geburtsdaten und Adressen. Aber auch verzweifelte Fragen nach dem Warum, Liebesschwüre, Verwünschungen oder Zeichnungen. Anders als bei Akten oder Archivalien, den Quellen aus der Hand der Täter, seien diese Inschriften sehr wertvoll als unmittelbare Quellen der Opfer. Sie dokumentierten den Häft-lingsalltag. Und in dem Moment, als die Inhaftierten ihre Einritzungen erstellten, hätten sie sich aufgelehnt gegen die unmenschlichen Bedingungen.

Heute viele Anregungen zur Erkundung

Zu eigenen Gedanken über Ausgrenzung, Verfolgung und Erinnerung anregen sollen den Besucher die Skulpturen und Installationen des Kasseler Künstlers Stephan von Borstel, die seit 1992 eine Dauerausstellung in Breitenau bestücken. Pädagogen informieren in der Gedenkstätte nach Absprache einen halben Tag lang eingehend über Themen wie „Juden als Kasseler Bürger und Häftlinge in Breitenau“ oder „Zwangsarbeiter und Rüstungsindustrie“.
Wer das Gelände selbstständig erkunden möchte, kann einen QR-Code-Rundgang mit dem eigenen Smartphone oder Tablet nutzen. Entsprechende Flyer sind in Kästen ausgelegt. An zehn Stationen sind jeweils Infos in Text, Bild und Video abrufbar. Eigentümer der Anlage ist Vitos Kurhessen, ein Unternehmen des Landeswohlfahrtsverbands Hessen, das dort eine Einrichtung für chronisch psychisch kranke Menschen betreibt. Daher sollte während der geschichtlichen Spurensuche die Privatsphäre der Bewohner und Anwohner beachtet werden.

Von Evelyn Schwab

 

ZUR SACHE

Besonderer Lernort
Die Gedenkstätte Breitenau geht auf ein Forschungsprojekt an der Gesamthochschule Kassel zurück, nachdem umfangreiche Akten zur Lagergeschichte für die Wissenschaft ausgewertet wurden. Die Gedenkstätte besitzt eine Präsenzbibliothek und ein Archiv mit rund 3000 Gefangenen-Akten sowie vielen weiteren Dokumenten, Fotos, Korrespondenzen und Zeitzeugenberichten. Das Bildungsangebot reicht von Rundgängen, Projekttagen, Seminaren bis zu Vorträgen und Lesungen. (ez)
www.gedenkstaette-breitenau.de

 

CHRONIK

Benediktinerkloster
Für ein paar Jahrhunderte war das Benediktinerkloster Breitenau ein bedeutender Ort. Die Lage in der „breiten Aue“ am Flussufer der Fulda hatte ihm den Namen gegeben. Gegründet wurde es 1113 durch das Grafenpaar Werner und Gisela von Grüningen. Im Zuge der Reformation löste der hessische Landgraf Philipp das Kloster 1527 auf. Während der NS-Zeit wurde auf dem Gelände ein frühes Konzentrationslager für deutsche politische Gefangene und während des Zweiten Weltkriegs ein Arbeitserziehungslager der Geheimen Staatspolizei Kassel eingerichtet. Heute ist auf dem Gelände ein psychiatrisches Wohnheim des Landeswohlfahrtsverbands Hessen. (ez)

 

HINTERGRUND

documenta 13
Bei der documenta 13 vor zehn Jahren erhielten die Aufarbeitung der Geschichte Breitenaus und die Arbeit der Gedenkstätte eine besondere Würdigung. Ein in der ehemaligen Klosterkirche präsentiertes Kunstwerk von Judith Hopf stellte damals eine Verbindung zur Kasseler Weltschau dar: eine Installation aus Glassäulen. Im mittelalterlichen Kloster waren bereits Prostituierte und Nichtsesshafte eingesperrt worden, bevor die Nazis dort Regimegegner und Juden festhielten. Nach dem Zweiten Weltkrieg diente der Ort dann zeitweise auch als Einrichtung für sogenannte schwer erziehbare Mädchen. (ez)