Jugendliche setzen sich mit ihrem Glauben und Seelsorge auseinander

„Ist das so was wie Therapie?“

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Egal ob evangelisch oder katholisch, in beiden großen Kirchen sind Jugendliche und junge Erwachsene wichtige Säulen der Seelsorge. Erfahrungen aus dem Jugendpastoralen Zentrum Tabor in Hannover und der St.-Andreas-Gemeinde in Harsum.


Im Seminar setzen sich Reto (rechts) und die anderen jungen Erwachsenen mit Seelsorge und ihrem Glauben auseinander.

„Was ist eigentlich Seelsorge?“ Die Jugendlichen schauen sich an. Es ist früher Abend, sie sitzen an einem langen Holztisch im Jugendcafé Tabor der katholischen Kirche in Hannover. Einige lackieren sich gegenseitig die Nägel in schwarz, zwischen ihnen steht ein Eimer mit Würfeln. Eigentlich dürften sie gar nicht mehr hier sein, das Café hat zu. Doch Schwester Birgit, die Leiterin des Tabor, hat ihnen den Schlüssel anvertraut. Viele von ihnen kommen schon seit acht Jahren ins Café, erst als Kinder, dann als Jugendliche und jetzt sogar als Teamer. Die Winterabende verbringen sie hier zusammen, normalerweise reden sie angeregt. Jetzt herrscht Stille. „Ich bin nicht katholisch.“, erklärt eine. „Ich bin gar nicht getauft“, sagt die andere. Wieder Stille. Seelsorge, das hat also etwas mit Kirche zu tun. Dann: „Ist das nicht so was wie Therapie?“, fragt Lara in die Runde. Einige lachen. „Es geht darum, dass niemand alleine bleibt“, überlegt Sajitha.

Als Gruppenleiter sind sie zum Beispiel bei Ferienprojekten für die teilnehmenden Kinder häufig die ersten Ansprechpartner. Lara versucht in Worte zu fassen, wie sie sich fühlt, wenn die Kinder sie bei Problemen ansprechen. „Es ist auch eine Art Vertrauensbeweis“, hilft Schwester Birgit ihr aus.

Seelsorge im Türrahmen

Die Theologin sitzt neben ihnen und lauscht. Was die Jugendlichen für die Kinder sind, ist sie zum Teil für die Jugendlichen. Ihr Büro ist ein Stock höher. Hier sind noch ganz viel andere Räume, in einem sitzt noch eine Freundesgruppe. Durch einen kleinen Vorraum erreicht man Schwester Birgit, vorbei an der Sekretärin: „Eine ganz wichtige Bezugsperson“. Manchmal kommen die Jugendlichen auch bei ihr vorbei. „Das Schöne an der offenen Jugendarbeit ist, dass viele Dinge so nebenher laufen“, erklärt sie. Ein wichtiger Grundsatz für sie ist, keine Gespräche aufzudrängen. Viel passiert, wenn die Jugendlichen zum Beispiel Federball spielen. Auch das Wort Seelsorge selbst verwendet sie nicht so häufig. Wenn sie von ihren Jugendlichen weiß, dass sie privat gerade etwas bedrückt, fragt sie zum Beispiel nebenbei nach, wie es ihnen geht.

„Seelsorge im Türrahmen“, nennt das Pastorin Alexandra Beiße aus der evangelischen Sankt Andreas Gemeinde in Harsum. Häufig spricht sie nebenbei mit den Mitgliedern der Gemeinde, fragt, wie es ihnen geht. Wichtig ist für sie ebenfalls die Jugendarbeit, sie ist zuständig für den Mitarbeiterkreis, kurz MAK. Mit ihnen fährt sie auf Jugendfreizeiten, macht Konfirmandenwochenenden. Ihr ist dabei bewusst, was für eine wichtige Rolle die Gruppenleiterinnen und -leiter spielen, die häufig selbst nur wenige Jahre älter sind als die Teilnehmer. „Zur Pastorin zu gehen, ist noch eine viel größere Hürde“, erklärt sie. Im Gegensatz zu ihr haben die Jugendlichen jedoch keine professionelle Ausbildung für Seelsorge absolviert.

Genau da haben Petra Eickhoff-Brummer und Marco Kosziollek eine „Marktlücke“ entdeckt. Kosziollek arbeitet im Landesjugendpfarramt im Haus kirchlicher Dienste. Eickhoff-Brummer ist im Zentrum für Seelsorge und Beratung tätig. Durch Zufall haben die beiden vor eineinhalb Jahren gemerkt, dass sie aktuell fast im gleichen Bereich am gleichen Thema arbeiten: Seelsorge für Jugendliche. Seitdem haben sie zusammen ein Heft herausgebracht mit dem Titel „Was tun, wenn jemand weint. Juleica Basis Modul für die Peer-to-Peer-Seelsorge“. Dazu organisieren sie Workshops für Jugendliche wie an diesem Samstag im Gemeindehaus in Harsum, eingeladen von Alexandra Beiße. Für Marco Kosziollek und Petra Eickhoff-Brummer ist es der erste Workshop für junge Menschen den sie gemeinsam anbieten, sich in Präsenz sehen. Gerade in der Coronakrise sei Peer-to-Peer-Seelsorge ein sehr aktuelles Thema, so Marco Kosziollek.
„Seelsorge ist eine Entdeckungsreise.“, erklärt Petra Eickhoff-Brummer. Sie steht vor den sechs teilnehmenden Jugendlichen. An diesem sonnigen Samstagmorgen haben sie sich im Gemeindesaal versammelt, die Tische beiseite geschoben und einen Stuhlkreis gebildet. Die Altersspanne der Interessierten reicht von 16 bis 25. Doch obwohl sie noch jung sind, haben sie schon einige Erfahrung in der Jugendarbeit gesammelt. Da ist die 17-jährige Agnes, die in ihrer Freizeit beim Kinderturnen hilft. „Kinder freuen sich über das Simpelste und haben dann immer dieses Leuchten in den Augen“, erklärt sie ihre Begeisterung. Ihr gegenüber sitzt die 25-jährige Janina, die sich schon seit elf Jahren beim MAK engagiert. Oder der gerade 16-jährige Ole, der nach seiner Konfirmation in der Lukasgemeinde Teamer geworden ist und seitdem alles mitmacht, was mit Konfirmandenarbeit zu tun hat. „Die Jugendlichen hier sind schon echte Profis“, beobachtet Eickhoff-Brummer.
 


Schwester Birgit Stollhoff (links) begleitet im Tabor junge Erwachsene, die inzwischen selbst Kinder und Jugendliche begleiten.

„Auf dem Nachhausweg habe ich noch viel über die Grenzen nachgedacht.“, blickt Ole auf den gestrigen Abend zurück. Auf einem Plakat haben die Teilnehmer eine Mauer aufgemalt und auf die einzelnen Steine ihre persönlichen Grenzen bei der Seelsorge eingetragen. Da stand zum Beispiel „Körperkontakt“ oder „Traumata“. Auf einem zweiten Plakat mit einer Hand haben sie die Stärken gesammelt, der 18-jährige Reto hat dort Authentizität notiert. Für ihn ein großer Pluspunkt der Seelsorge unter Jugendlichen, denn sie sind selbst noch sehr nah an der Lebensrealität des Gegenübers.

Als Referentin wiederum hat Eickhoff-Brummer vom ersten Tag positiv die Offenheit und Wissbegierde der Teilnehmer mitgenommen. Den größten Unterschied zu Workshops mit Erwachsenen sieht Kosziollek in den vielen Warm-ups zwischendurch. „Die würden das nicht alle mitmachen“, sagt er.
Warm-ups? Das sind kleine Spiele zum Auflockern und Aufwärmen, oft aber auch mit einem tieferen Sinn. So sitzen sich bei einem solchen Spiel zwei Teilnehmer gegenüber und erzählen sich gegenseitig eine Geschichte. Je nach zwei Sätzen wechselt der Erzähler. Er startet immer mit „Ja, genau“ und führt die Ideen der ersten Person fort. Immer zu zweit verteilen sich die jungen Leute im Haus. Manche reden über Atombomben, andere über Einhörner. Reto und Agnes sitzen auf dem Sofa gegenüber. Nach mehreren Durchgängen sind sie bei den Themen „Ikea“ und „Pflanzen“ angekommen. Durch das ganze Haus schallen „Ja, genau“ Rufe.

Zuhören und den Arbeitsauftrag erkennen

Anschließend überlegen die Jugendlichen im Kreis, was das Spiel mit Seelsorge zu tun haben könnte. Kosziollek sammelt die Ideen auf einem Flipchart. „Wann lief es denn besonders gut und wann eher nicht?“, fragt seine Kollegin in die Runde. Zusammen stellen sie fest, dass Zuhören und die Haltung des Gesprächspartners sehr wichtig sind.

Im Tabor ist inzwischen noch Romina zu der Runde dazugestoßen, in der kleinen Küche macht sie sich was zu essen. Auch die Jugendlichen hier haben klare Vorstellungen davon, was sie sich von einem Gespräch erhoffen. „Was hilft, ist, wenn jemand zuhört“, sagt eine aus der Runde. Gewünscht werden vor allem auch ehrliche Ratschläge. Denn Seelsorge besteht nicht ausschließlich aus Zuhören. Wer ganz genau hinhört, kann darin noch einen „Arbeitsauftrag“ erkennen, denn das Ziel des Gespräches bestimmt die hilfesuchende Person. Eickhoff-Brummer nennt drei verschiedene Aufträge: Beistand, Problemklärung und Sinnsuche.  

Seelsorge und Grenzen sind persönlich

„Bei manchen Problemen muss man einfach akzeptieren, dass man dazu keine Antwort hat“, betont Kosziollek. Dabei denkt er beispielsweise an Jugendliche, die Angehörige durch einen Unfall verloren haben. Solche Gespräche fallen unter die Kategorie „Sinnsuche“. Andere würden sich einfach nur über jemanden freuen, der ihnen etwas Zeit schenkt, Beistand gibt.

Auf dem Boden des Gemeindehauses liegen Plakate mit Sätzen wie „Das hat einfach keinen Sinn mehr.“ Jetzt sollen die Jugendlichen ihre Gedanken dazu schreiben. Es wird leise, einige hocken sich hin und kommentieren mit bunten Stiften. Janina schreibt zu dem letzten Satz „Hauptamtliche rufen“. Sie würde das Gespräch sofort abgeben, bei dieser Sinnfrage ist eine ihrer Grenzen erreicht. Nicht alle würden das gleiche tun, die Wörter und Sätze unter den Aussagen unterschieden sich zum Teil. Seelsorge und Grenzen sind persönlich.
Mittagspause – es gibt Pizza. Alle sitzen zusammen an einem Tisch. Die Gespräche drehen sich um Gott und die Welt, es geht um Pizza Hawaii, um das Theologiestudium in Göttingen oder die aktuelle Situation in der Schule.

Auch wenn sich die Teilnehmer vorher noch nicht kannten, teilen sie doch ähnliche Erlebnisse, eine ähnliche Herkunft. Alle sind in der Kirche aktiv und stehen für ihren Glauben ein. Sie erzählen von ihren Erlebnissen, ihren Glaubenserfahrungen. „Früher habe ich noch nicht so für meinen Glauben gestanden.“, sagt der 18-jährige Reto. Am Wochenende auf einer Party hätte er früher nicht so offen über die Konfirmandenaktion geredet. Ole berichtet, dass er in der Schule häufig auf seinen Glauben angesprochen wird. „Andere fragen mich, warum Gott gewisse Dinge zulässt. Das weiß ich natürlich nicht“, aber man redet darüber. Häufig haben die jungen Leute selbst an den Kinderaktionen teilgenommen, die sie jetzt in ihren Gemeinden leiten. Aktiv für ihren Glauben entschieden haben sie sich meistens nach der Konfirmation.

Kosziollek verteilt Zettel für Rollenspiele mit fiktiven Fällen. Jeweils zu dritt suchen sich kleine Gruppen im  Gemeindehaus ihren Platz. Agnes, Ole und Reto haben sich Fall Zwei ausgesucht. Im Jugendkeller lümmeln sie sich auf die Sofas, in der Ecke thront Batman neben der Bibel. Um zu entscheiden, wer welche Rolle übernimmt, wird gelost. Drei gefaltete Zettel für die drei Rollen: Seelsorger, Jan – die fiktive Person aus dem Fall – und der Beobachter.
 „Was ist denn das Schönste an deiner Beziehung mit Alex?“, fragt Agnes als Seelsorgerin. Jan druckst herum und  hat offensichtlich Redebedarf. „Ich habe ihn vor etwa einem Jahr kennengelernt“, beginnt er.

Ein Gebet vor und nach dem Gespräch

Nach dem simulierten seelsorglichen Gespräch reden die Jugendlichen gemeinsam über die Beratung. Ihnen ist aufgefallen, dass sie hauptsächlich Fragen gestellt haben. Daran knüpft Eickhoff-Brummer an. „Eine gute Frage bringt den Menschen zum Nachdenken“, sagt sie. Dafür händigt sie allen Jugendlichen ein Arbeitsblatt mit Beispielfragen aus, geordnet nach den unterschiedlichen Aufträgen. Damit ausgestatett wagt das Dreierteam im Jugendkeller einen erneuten Versuch. Nach einigen Fragen stockt das Gespräch. Ole schaltet sich als Beobachter ein, bringt mit einer Frage das Gespräch wieder in Gang.

„Voll gut“, lobt Agnes das Seminar. Für dieses Angebot mit seinen Hilfestellungen für die Praxis sind alle drei dankbar, „Seelsorge ist ein Drahtseilakt“, erklärt Reto, „Einmal für denjenigen, der sich öffnet, und für den, der zuhört.“

Die Jugendlichen fragen Marco Kosziollek und Petra Eickhoff-Brummer, wie sie selbst seelisch mit solchen Situationen umgehen. Beide berichten aus ihrer Zeit als Klinikseelsorger. Da hätten sie vor und nach Gesprächen in der Klinikkapelle gebetet – das geht auch ohne Kapelle.

Wenn Lara aus dem Tabor Probleme hat, redet sie mit Jardel oder Patryk. Bisher saß Patryk mit der Gruppe am Tisch, ohne viel zu reden. „Aber ich bin doch eigentlich nur da“, sagt er. „Aber du hörst zu“, fasst es Birgit Stollhoff zusammen.

Anna Abraham