Macht und Gewaltenteilung in der Kirche

Ist mehr Demokratie möglich?

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Claudia Lücking-Michel und Franz-Josef Overbeck leiten beim Synodalen Weg das Forum „Macht und Gewaltenteilung“. Im Interview erzählen die ZdK-Vizepräsidentin und der Essener Bischof, wann kirchliche Macht zum Problem wird – und welche Veränderung sie bewirken wollen.

Eine brennende Kerze und ein gelochtes Metallkreuz vor dem noch leeren Tagungsraum der Regionenkonferenz "Fünf Orte - ein Weg" zum synodalen Weg am 4. September 2020 in Dortmund.
Reformprozess unter dem Zeichen des Kreuzes: Beim Synodalen Weg diskutieren Bischöfe undLaienvertreter
über die Zukunft der Kirche - zum Beispiel zur Frage, wie Macht gerecht verteilt werden kann. 

Der Ursprung des Synodalen Weges sind der Missbrauchsskandal und die MHG-Studie. Was hat Macht mit Missbrauch zu tun?

Overbeck: In den Untersuchungen über die Ursachen des Missbrauchs ist deutlich geworden, dass wohl das Hauptproblem darin liegt, wie Täter – und selten auch Täterinnen – Macht über Schutzbefohlene, über Schwächere erlangt und ausgeübt haben. Das ist eine der großen Fragen, die sich uns systemisch stellen und die beantwortet werden müssen.

Lücking-Michel: Natürlich ist es wichtig, sich zuerst um die Betroffenen zu kümmern. Dann geht es um die Täter, ihre persönliche Schuld und Verantwortung dürfen und wollen wir nicht leugnen. Trotzdem geht die MHG-Studie weiter und stellt strukturelle und systemische Problemlagen fest. Die führen auch in anderen Feldern zu Machtmissbrauch. Missbrauch von Geld etwa oder geistlichem Missbrauch. Der Synodale Weg will sich diese Strukturen anschauen und ändern.

Um welche Themen geht es in Ihrem Forum konkret?

Lücking-Michel: Wie verstehen wir Macht, wie organisieren wir Beteiligungsmöglichkeiten aller Getauften und Gläubigen? Wie wird Macht kontrolliert? Von der Erfahrung des sexuellen Missbrauchs kommt man schnell zu Fragen, bei denen wir uns auch gut mit den anderen Foren abstimmen müssen: Wie verstehen wir Kirche? Wie verstehen wir Weiheamt und Dienste? Wer hat Zugang zum Amt? 

Overbeck: Die Auseinandersetzung mit den Zusammenhängen von Macht und Missbrauch ist eine wichtige Aufgabe, der wir uns stellen. Bei der Frage nach Macht geht es aber immer auch um kulturelle Faktoren. Wir leben hier im Westen Europas in einer rechtsstaatlichen, auf Gewaltenteilung ausgerichteten und demokratischen Gesellschaft. Transparenz und Machtkontrolle zählen zu unserem gesellschaftlichen Selbstverständnis und sind entsprechend auch zentrale Forderungen in unserem Forum. Die Herausforderung ist, diesen Forderungen angemessen und theologisch verantwortet gerecht zu werden. 

In einem ersten Grundsatzpapier Ihres Forums fordern Sie, dass kirchliche Macht der Verkündigung dienen muss. Tut sie das heute? Und wo behindert sie die Verkündigung?

Overbeck: Verkündigung selbst ist eine Form von positiver Machtausübung, wenn die Kirche das Evangelium empathisch, kompetent und glaubwürdig auslegt. Im alltäglichen Tun von Pfarreien und Gemeinden gibt es zahlreiche positive Beispiele, wie nicht nur Priester, sondern auch viele andere in diesem Sinne Macht ausüben. Gleichzeitig kann das heutige System aber auch missbraucht werden. Es ist eine große Herausforderung für die Kirche, wie wir ein streng hierarchisches Machtverständnis mit einem eher demokratischen, besser synodalen Machtverständnis zusammenbringen können. 

Wo behindert kirchliche Macht die Verkündigung?

Lücking-Michel: Immer da, wo sie missbraucht wird und Vertrauen zerstört. Uns wird oft unterstellt, dass wir im Synodalen Weg nur über Strukturreformen sprechen und es doch eigentlich um das Evangelium gehen müsste. Mir geht es aber darum, mit den Reformen die Verkündigung des Evangeliums besser zu ermöglichen. Wir müssen die Voraussetzung dafür schaffen, dass nicht die Kirche selbst zum größten Hindernis für die Verkündigung wird, sondern dass wir wieder glaubhafte Zeugen des Evangeliums werden. 

Overbeck: Das Evangelium gibt es immer nur auf menschliche Weise. Wir verkünden es kulturell eingebunden in die Zeit, in der wir leben. Geschichtlich denken zu können gehört zu den großen Gewinnen, die uns das Christentum und die Kirchen gebracht haben. Unsere Welt, unser Alltag haben sich massiv verändert. Wie gelingt es uns, unter diesen Bedingungen das Evangelium zu verkünden? 

Lücking-Michel: Inkulturation beginnt schon bei der Frage, wie Männer und Frauen, Junge und Alte beteiligt sind. Da hat sich unsere Welt und unser Alltag zum Glück verändert, aber in der Kirche haben wir enormen Nachholbedarf. Wir sollten endlich davon reden, dass Macht- und Gewaltenteilung auch mit einem bestimmten Verständnis von Weiheamt zu tun hat, mit Klerikalismus und mit Gremien und Kreisen, die ganz offiziell nur Männern vorbehalten sind. Die Folge ist eine Männerkultur, eine männliche Sprache- und Denkweise. Doch das Leben ist bunt. Wenn wir allen Menschen das Evangelium verkünden wollen, braucht es vielfältige, lebensnahe Erfahrungen und Perspektiven. 

Wie laufen die Diskussionen in Ihrem Forum? Kommt da auch mal Ärger auf?

Lücking-Michel: Wir können dort sehr offen, klug und differenziert miteinander diskutieren. Und das, obwohl wir schwierige Bedingungen haben: Eine digitale Sitzung mit 30 Personen ist nicht immer leicht. Deshalb bereiten Arbeitsgruppen Themen- und Beschlusstexte vor. Wir haben gerade ein Papier verabschiedet, das drei intensive Diskussionsrunden im Plenum brauchte und viel Hintergrundarbeit mit „Wortklaubereien“, wie manche sagen würden, also mit dem Ringen um gute Formulierungen für oft sehr differenzierte Lösungen.

Overbeck: Ich empfinde es als ein sehr redliches und seriöses Miteinander. In der großen Unterschiedlichkeit, in der wir da sind, ist es ein sehr gutes Ringen aller und nicht nur von ein paar wenigen.

Franz-Josef Overbeck ist Bischof von Essen.
Franz-Josef Overbeck ist Bischof von Essen. 

Käme ich ohne Theologiestudium bei Ihnen mit?

Overbeck: Man muss schon schauen, um welches Feld es geht. Wir als Moderatorin und Moderator müssen genügend Raum geben für Diskussionen, die eben keine theologische Qualifikation voraussetzen. Aber wir müssen auch vor der kirchlichen Tradition und Theologie bestehen können. Aufgrund vieler positiver Rückmeldungen aus dem Forum habe ich aber den Eindruck, dass uns diese Herausforderung gemeinsam sehr angemessen gelingt. 

Lücking-Michel: Sie benennen eine wichtige Herausforderung, vor der wir stehen, Herr Waschki. Wir müssen einerseits theologisch auf Höhe der wissenschaftlichen Herausforderung argumentieren – und andererseits so, dass Menschen nicht sagen, ich verstehe gar nicht, worüber die streiten. Da gilt es, eine gute Balance zu finden. Wir arbeiten an Texten. Echte Entscheidungen brauchen am Ende eine Textbasis, auf der man diskutiert, was man wirklich meint. Manch einer mag diese Art der Arbeit nicht so gerne und bedauert, dass wir wenig Gelegenheit haben, uns „einfach so“ auszutauschen. Aber durch die Arbeit an den Texten schärft man die eigene Position – und kann einen Kompromiss gut formulieren. 

Overbeck: Wir versuchen, eine Kultur des konstruktiven und lösungsorientierten Umgangs mit Konflikten zu leben. Manchmal höre ich die Forderung, der Synodale Weg müsse endlich geistlicher werden. Ich finde das Wort in diesem Zusammenhang dann schwierig, wenn es genutzt wird, um intellektuelle Auseinandersetzungen abzuwehren. Das wird der Bedeutung von „geistlich“ nicht gerecht. In jeder Anstrengung der Vernunft ist ganz viel Geist. Mit einer Verengung des Begriffs, die Vernunft und Geist voneinander trennt, wird zum Teil auch Politik betrieben, um gewisse Perspektiven auszuschließen und andere für sakrosankt zu erklären. 

Worüber gibt es den meisten Streit in Ihrem Forum?

Overbeck: Es gibt sehr unterschiedliche Kirchenbilder, aus denen sich entsprechende Konsequenzen ergeben. Ich finde, dass wir es in unserem Grundlagenpapier geschafft haben, ein Kirchenbild zu formulieren, das viele teilen können. Dort werden an verschieden Stellen Korrekturen markiert, die der Tradition angemessen sind. Da es an dieser Stelle auch um Wahrheitsfragen geht, birgt dieses Vorgehen Konfliktpotential. Die Kunst besteht immer darin, einen Kompromiss zu finden, der tragfähig ist. Auseinandersetzungen über unterschiedliche Wahrheits- und Geltungsansprüche sind wichtig und müssen geführt werden, erschweren aber gerade diese Suche nach einem tragfähigen Kompromiss. Meiner Meinung nach sind aber 70 oder 80 Prozent von uns da auf einem gemeinsamen Weg.

Lücking-Michel: Wie zu erwarten, ist es am Ende der Konflikt, ob es Macht und Gewaltenteilung allein von oben durch den Heiligen Geist über die apostolische Nachfolge bis zum einzelnen Pfarrer vor Ort gibt oder welche Rolle die Gemeinschaft der Gläubigen als Bestätigung und Korrektiv hat. Ideen für gute Regelungen finden wir zum Beispiel im Völkerrecht, - zum Glück haben wir nämlich außer Theologinnen und Theologen auch Juristinnen in der Gruppe. Manches ist darüber gut zu lösen. Es gibt klare und transparente Verfahren, auf die sich alle Seiten einlassen können, so dass nicht der Pfarrer am Ende sagen kann, was stört mich der Pfarrgemeinderat?Das kann man anders regeln. 

Wie kann man die Dinge anders regeln? Was sind die Verfahren, die Sie vorschlagen?

Lücking-Michel: Sicher keine Patentrezepte. Aber es gibt Verfahren, die in anderen Kontexten ganz selbstverständlich sind, Abstimmungen etwa oder verlässliche Berufungsinstanzen. 

Overbeck: Das Christentum kennt in seiner Geschichte viele verschiedene Formen von Macht und Gewaltenteilung. Wir haben den Anspruch, in der apostolischen Sukzession eine unlösbare Kette bis zum Ursprung zu bilden. Im zweiten Jahrtausend haben wir das sehr petrinisch ausgelegt... 

,,, also von Petrus her kommend, eben auf die Apostel und deren Nachfolger, die Bischöfe, focussiert...

Overbeck: Genau. Und jetzt wird das durch andere Entwicklungen hinterfragt. Es ist klug, dass der Papst dabei nicht den Begriff Demokratie, sondern Synodalität verwendet. Wir werden aber darum ringen müssen, was Synodalität bedeutet. 

Sie unterscheiden zwischen Demokratie und Synodalität. Wo liegen die Unterschiede?

Overbeck: Man bestimmt den Willen Gottes nicht durch demokratische Wahlen. Es ist ein schwierig auszutarierendes Miteinander zwischen dem petrinischen Element, für das ich auch in meinem Amt stehe, und einer Ergänzung, die sich im Synodalen zeigt. Es muss eine Entwicklung geben, die diese beiden Stränge neu zueinander bringt. Da stehen wir ganz am Anfang in unserer katholischen Welt. So sehr ich die liberale Demokratie als Staatsform schätze und für ihr Bestehen mit allen Kräften eintrete, bin ich strikt gegen eine reine Form der demokratischen Kirche. Sie ist eine synodale Kirche und eine Kirche, die auch vom Amt bestimmt wird.

Claudia Lücking-Michel ist Vizepräsidentin des Zentralkomitees der deutschen Katholiken.
Claudia Lücking-Michel ist Vizepräsidentin
des Zentralkomitees der deutschen Katholiken. 

Lücking-Michel: Da gehe ich mit. Aber wir stehen nicht am Anfang. Schon Nikolaus von Kues hat gezeigt, wie die Erwählung von oben – also petrinisches Modell – mit der Bestätigung von unten – also demokratisches Element – zusammengehen kann. Weder das eine noch das andere darf wegfallen. Der Synodale Weg ist ein zeitlich begrenztes Projekt, das irgendwann zuende ist. Wenn wir mit Beteiligung wirklich Ernst machen wollen, kann Synodalität in meinem Verständnis kein Ende haben. Wir müssen Formate finden, die verbindlich festgelegte Beteiligung auf Dauer ermöglichen. Das ist einer der nächsten Texte, die in unserem Forum diskutiert werden.

Auf der Ebene der Pfarreien und Bistümer haben wir ja schon synodale Elemente, nämlich Pfarrgemeinderäte und Diözesanräte. Wo kann da mehr Demokratisierung stattfinden?

Overbeck: All diese Räte haben eine beratende Funktion. Durch Selbstbindung des Bischofs oder des Pfarrers werden in gewissen Punkten Mitentscheidungsmöglichkeiten gegeben. Wir ringen darum, wie aus einer Beratung eine Beteiligung werden kann. 

Lücking-Michel: Als die Räte als Ergebnis der Würzburger Synode eingerichtet wurden, war das ein starker Schritt. Aber das Selbstverständnis der Gläubigen hat diesen Schritt überholt. Wenn der Pfarrer immer das Veto hat, hat dieses System Grenzen. Diese Grenzen wurden in vielen Fällen umschifft, weil Menschen vor Ort gut miteinander gearbeitet haben. Aber zuweilen ist ein Streit um diese Grenzen heftig aufgebrochen, in Konflikten oder wenn ein neuer Pfarrer kam und die autoritäre Karte gezogen hat. Menschen haben ein sehr feines Gespür dafür, wo ihre Mitwirkung ernsthaft gewünscht ist. Wenn sie nur als Berater mitwirken oder beim nächsten Pfarrfest nur den Kaffee verkaufen dürfen, stehen sie nicht mehr zur Verfügung. 

Overbeck: Beteiligung wird im weltweiten Maßstab ganz unterschiedlich gesehen und gewünscht. Das ist eine große Herausforderung für die Gesamtkirche. In unserer Kultur ist Beteiligung selbstverständlich. Woanders nicht. 

Lücking-Michel: In anderen Ländern sind die gesellschaftlichen Erfahrungen auch ganz anders. Wenn wir meinen, katholisch sein heißt, es muss überall auf der Welt alles genau gleich sein, können wir einpacken. „Katholisch“, das steht doch für Weite. Wir sollten also in einem weiten Rahmen Vielfalt ermöglichen. In diesem Rahmen kann es dann ortskirchliche Lösungen geben. An vielen Stellen haben wir das de facto. 

Forum Macht und Gewaltenteilung 

Der Synodale Weg hat vier Arbeitsgruppen, so genannte Synodalforen, zu den Themen „Macht und Gewaltenteilung“, Priesterliche Existenz heute“, „Frauen in Diensten und Ämtern in der Kirche“ und „Leben in gelingenden Beziehungen – Liebe leben in Sexualität und Partnerschaft“. Im Forum „Macht und Gewaltenteilung“ arbeiten 35 Frauen und Männer unter Vorsitz der Vizepräsidentin des Zentralkomitees der deutschen Katholiken (ZdK) Claudia Lücking-Michel und des Essener Bischofs Franz-Josef Overbeck. Das Forum hat bereits einen 40-seitigen Grundlagentext zur Diskussion gestellt sowie Beschlussvorschläge zum Predigtdienst für Laien, zu einer Finanzrahmenordnung der Bistümer sowie zur Einrichtung einer Ombudsstelle zur Prävention und Aufarbeitung von Machtmissbrauch in der Kirche.

In Ihrem Papier schreiben Sie, dass Ämter in der Kirche durch Wahl und auf Zeit vergeben werden sollen. Ist das Konsens in Ihrem Forum?

Lücking-Michel: Das werden wir noch diskutieren. Der Text ist noch nicht verabschiedet. Sie ahnen schon, ich fände das gut. 

Overbeck: So einfach wird das nicht gehen. Das wird äußerst differenziert betrachtet werden müssen. Diese Frage ist auch in den anderen christlichen Kirchen sehr unterschiedlich geregelt.

Frau Lücking-Michel, welches Thema, welche Veränderung aus dem Forum Macht ist Ihnen besonders wichtig? 

Lücking-Michel: Ich möchte dazu beitragen, dass wir durch theologische Fundierung und konkrete praktische Beispiele dauerhafte synodale Strukturen schaffen. Damit wir nicht nur jetzt miteinander um Entscheidungen ringen, sondern damit dauerhaft klar wird: Die Kirche der Zukunft muss andere verbindliche Formate von Macht und Gewaltenteilung haben, so dass an den entscheidenden Stellen nicht nur Kleriker, sondern alle Gläubigen mitberaten und mitentscheiden. Macht wir dann nicht nur endlich mit uns Frauen, sondern mit allen Getauften und Gefirmten geteilt. 

Bischof Overbeck, woran hängt Ihr Herz? 

Overbeck: An der Inkulturation der Kirche in ihren vielen Traditionslinien, die durch die synodale ergänzt wird und dadurch neue Perspektiven eröffnet. Aufgrund unserer kulturellen Prägung gibt es dafür in der Kirche in Deutschland viele Möglichkeiten. Ich stehe für eine weite und offene Kirche, in der Vielfalt und Einheit miteinander gelebt werden und keinen Widerspruch darstellen.

Interview: Ulrich Waschki