Archiv im Vatikan: Eine einmalige Quellensammlung

„Jedes Schicksal verdient die gründliche Aufarbeitung“

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Hubert Wolf. Vatikan Archiv
Nachweis

Wissenschaftler mit Detektivsinn: Hubert Wolf forscht in den Archiven zu Papst Pius XII. Foto: Catrin Moritz

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Wissenschaftler mit Detektivsinn: Hubert Wolf forscht in den Archiven zu Papst Pius XII. 

Der Münsteraner Kirchenhistoriker Hubert Wolf forscht seit Jahrzehnten im Vatikanischen Archiv. Im Interview erzählt er, was das Archiv so besonders macht, wie viel Detektivsinn er für seine Arbeit braucht und warum sein neuestes Projekt zu Tausenden jüdischen Bittbriefen ihn ehrfürchtig werden lässt.

Was macht das Vatikanische Archiv so besonders?

Bei den Beständen im Vatikanischen Apostolischen Archiv handelt es sich um eine einmalige Quellensammlung. Es ist – wenn Sie so wollen – der Ort, an dem der Vatikan die Weltgeschichte eingelagert hat. Darf man als Historiker dort arbeiten, erfüllt sich ein Lebenstraum. Hier liegt spannendes, häufig unbekanntes Material zu ganz unterschiedlichen Themen, dokumentiert in circa 85 Regalkilometern Akten. Oft sind mein Team und ich die ersten, die eine Akte nach Jahrhunderten oder Jahrzehnten erstmals öffnen – mitunter befindet sich sogar eine Staubschicht auf den Bänden. Mit dem Lesen fängt man dann an, in die Geschichte einzutauchen. 

Sie klingen begeistert.

Begeisterung ist das eine, mühsame, präzise historische Arbeit das andere. Das Vatikanische Apostolische Archiv, dessen früherer Name „Vatikanisches Geheimarchiv“ den Transparenzbemühungen der katholischen Kirche weichen musste, ist einerseits ein normaler Arbeitsort und andererseits doch etwas ganz Besonderes. Wahrscheinlich ist es das einzige Archiv, das man nur durch täglichen Grenzübertritt – von Italien in den Vatikanstaat – besuchen kann. Im Gegensatz zu vollständig digital inventarisierten deutschen Archiven weiß man nicht bereits am heimischen Schreibtisch, was man in den jeweiligen Akten zu erwarten hat. Stattdessen ist viel Erfahrung sowie Intuition nötig. Und oft gleicht die Spurensuche mühsamem Sandsieben wie beim Ausgraben von Troja – doch manchmal lohnt sich die Suche und man findet einen historischen Schatz. 

Wie ehrfürchtig sind Sie, wenn Sie vor diesen staubigen Schachteln sitzen und wissen, Sie sind nun der erste Mensch seit Jahrzehnten oder Jahrhunderten, der einen Blick hineinwirft?

Einerseits empfinde ich tiefen Respekt vor den Schicksalen von Menschen und ganzen Völkern, die hier dokumentiert sind, andererseits bin ich auch neugierig. Doch um die aufgefundenen Dokumente verstehen zu können, braucht man das gesamte Instrumentarium historischen und handschriftenkundlichen Arbeitens. Oft liegen schwer lesbare Handschriften in allen möglichen Sprachen vor. Manchmal sind die Texte auch chiffriert und man braucht einen Code, um sie zu entschlüsseln. Wirklich ehrfürchtig macht mich aber unser aktuelles Projekt.

Erzählen Sie!

Papst Pius XII
Kirchenoberhaupt im Zweiten Weltkrieg: Papst Pius XII. Foto: kna

Mein Team und ich arbeiten derzeit in den Beständen zu Pius XII., der von 1939 bis 1958 Papst war. Sie sind erst 2020 der Forschung zugänglich gemacht worden. In den Tausenden Schachteln haben wir unzählige Briefe jüdischer Menschen aus der Zeit der Schoah gefunden, in denen sie den Papst und den Vatikan um Hilfe anflehen: „Retten Sie uns, Heiliger Vater!“ Ganz oft sind es die letzten Texte, die sie vor ihrer Ermordung geschrieben haben. Wir sind jetzt die ersten, die diese oft emotionalen Schreiben nach über 70 Jahren in den Händen halten dürfen. Daraus ergibt sich für uns als Team die Verpflichtung, das Schicksal dieser Menschen durch alle Quellen hindurch zu rekonstruieren und ihnen, deren Andenken die Nationalsozialisten auslöschen wollten, wieder eine Stimme zu geben. 

Wussten Sie zu Beginn dieses Projekts von den Briefen?

Nein. Es gibt zwar eine offizielle Aktenedition zu dieser Zeitepoche, die „Actes et documents du Saint-Siège relatifs à la Seconde Guerre mondiale“, die Papst Paul VI. hat anfertigen lassen. Dort ist aber lediglich die Rede von „einigen individuellen jüdischen Fällen“. Nach vier Jahren Forschung gehen wir allerdings von fast 10 000 Bittschreiben aus. Damit hätten wir nie gerechnet. 

Wie haben Sie die Briefe gefunden?

Im März 2020 war ich mit sechs weiteren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern unmittelbar nach der Öffnung der Bestände Pius’ XII. in Rom. Wir wollten Material für eine große Biografie dieses umstrittenen Papstes sammeln, dem man vorwirft, zur Ermordung von sechs Millionen Juden während der Schoah geschwiegen zu haben. Nach einer Woche wurde das Archiv aufgrund der Corona-Pandemie wieder geschlossen. Bis dahin hatte jedoch jeder von uns bereits mehrere dieser Bittschreiben in ganz unterschiedlichen Aktenserien gefunden, geschrieben von Frauen, Männern und sogar Kindern, in allen europäischen Sprachen. Ich selber hatte das Schicksal einer konvertierten Jüdin aus Stuttgart in meiner Heimatdiözese Rottenburg studiert. Da war für uns klar: Das ist das Thema, dem wir uns zuwenden müssen.

Und Sie haben Ihre ursprünglichen Pläne über den Haufen geworfen? 

Ganz richtig. Wir hatten uns zehn Jahre auf die Öffnung des Archivs vorbereitet und über 20 ausführliche Themen-Dossiers erstellt. Etwa zur berühmten Weihnachtsansprache Pius XII. von 1942, zu seinem Antikommunismus und zur „Rattenlinie“ mit Fragen wie: Ist es richtig, dass nicht nur Adolf Eichmann und Josef Mengele, sondern auch andere nationalsozialistische Verbrecher nach 1945 mit Hilfe des Heiligen Stuhls Pässe zur Flucht nach Südamerika bekommen haben? Aber auch zur Europäischen Einigung oder zum Mariendogma von 1950. Die Briefe der als jüdisch Verfolgten und die Eindrücklichkeit ihrer Bitten hatten wir nicht auf dem Schirm. Man möchte sofort wissen: Hat der Heilige Stuhl geholfen oder nicht? Und war er erfolgreich? Dazu reicht das Bittschreiben allein natürlich nicht. Wir müssen auch die kuriale Korrespondenz zu jedem Schicksal analysieren. 

Gibt es einen Brief, der Ihnen besonders in Erinnerung geblieben ist?

Wir haben den Brief einer Frau aus Deutschland gefunden, die in Italien gestrandet ist: Hildegard Jacobi, eine getaufte Jüdin und ledige Mutter, die den Papst um Hilfe bittet. Ihren ersten Brief schreibt sie 1939 und bittet um Unterstützung bei den italienischen Behörden für die Erteilung einer Aufenthaltsgenehmigung in Rom. Die Bitte wird verweigert. Ihr zweites Schreiben stammt aus dem Jahr 1940. Hildegard Jacobi bittet um finanzielle Hilfe, damit sie und ihr Sohn überleben. Diese wird gewährt. Nach intensiven Recherchen haben wir herausgefunden, dass ihr Sohn heute im Alter von 84 Jahren in Israel lebt, und haben ihn nach Rom eingeladen.

Dankesschreiben
Dankschreiben der Jüdin Margarethe Bach. Foto: kna/Romano Siciliani/Cristian Gennari

Was hat er erlebt?

Er wurde im Archiv vom Präfekten empfangen und konnte den Brief seiner Mutter an Pius XII. lesen. Er erkannte ihre Handschrift und erzählte, dass die Kirche seiner Mutter nicht nur Geld gegeben hatte, sondern die Familie auch in einem Kloster versteckte, wo sie den Holocaust überlebten. Ihm wurde klar, dass er mit Hildegard Jacobis Brief das Schreiben in Händen hielt, dem er sein Leben verdankt. Zu einer meiner Mitarbeiterinnen sagte er: „Ihr habt mir meine Geschichte wiedergegeben.“ Ein ganz besonderer Moment für mein Team und mich, aber auch für die Archivmitarbeiter, die uns unermüdlich Schachtel um Schachtel aus den Magazinen in den Lesesaal herauftragen. An diesem Punkt haben wir nicht nur die einmalige wissenschaftliche Bedeutung unseres Projekts gespürt. Natürlich wird man nur in wenigen Fällen heute noch lebende, in den Briefen erwähnte Personen finden, aber jedes Bittschreiben und jedes Schicksal verdient die gründliche Aufarbeitung – nicht zuletzt auch für die Nachfahren dieser Menschen.

Können Sie noch ein Beispiel nennen?

Insbesondere jüdisch-stämmige Katholiken fanden sich zwischen allen Stühlen sitzend, zerrissen, nirgendwo richtig dazugehörend. Der Brief eines konvertierten Juden aus Ungarn bringt diese Ausweglosigkeit auf den Punkt: „Heiliger Vater, die Katholiken sagen, wir sind Juden. Die Juden sagen, wir sind Katholiken.“ Und für die Nationalsozialisten änderte eine Taufe nichts am „rassischen“ Status, jüdisch-stämmige Katholiken wurden als Juden behandelt und verfolgt. Die Kirche behandelte sie trotz ihrer klaren Sakramententheologie – wonach jeder ab dem Moment der Taufe Katholik mit allen Rechten und Pflichten war – eher als Stiefkinder und in der Kurie bezeichnete man sie als „cattolici non ariani“, als „nichtarische Katholiken“. 

Was macht das mit Ihnen, solche Briefe zu lesen?

Es gibt zwei Ebenen. Zuerst einmal bin ich Wissenschaftler und wahre als solcher eine professionelle Distanz – ungeachtet des Inhalts der Briefe. Sachlich und präzise wende ich meine Methoden an: Ich erfasse den Brief präzise, transkribiere ihn, vergleiche ihn mit dem Originaltext und gehe schließlich allen Spuren und Hinweisen in den vatikanischen und anderen Quellen nach, um ein Schicksal exakt zu rekonstruieren. 

Und was ist die zweite Ebene?

Natürlich berühren die Briefe mich und mein Team als Menschen. Sie machen betroffen, vor allem wenn ein Bittsteller, dessen Schicksal wir über Jahre verfolgen, trotz aller vatikanischen Hilfe in Auschwitz ermordet wird. Das ist die ethische Ebene, die von uns verlangt, all diese Menschen dem Vergessen zu entreißen, indem wir ihre Schreiben in einer Datenbank zusammenstellen und möglichst viele Lebensgeschichten rekonstruieren. Ein überzeugendes Kriterium der Auswahl gibt es für uns nicht. 

Um was bitten die Menschen in den Briefen eigentlich?

Die Inhalte der Bitten sind vielfältig: Menschen bitten um Geld, um das bloße Überleben zu sichern. In diesen Fällen konnte der Vatikan selbst helfen und hat dies auch häufig getan. Es gibt Bitten um Informationen zu verschwundenen oder deportierten Angehörigen, Bitten um ein Visum nach Argentinien, in die USA oder nach Palästina, Bitten um Unterstützung bei staatlichen Behörden, um einen Arier-Nachweis zu erhalten, Bitten um ein Versteck und vieles mehr. 

Was ist bei solchen Briefen Ihre Aufgabe?

Aktenreihe im Vatikan
Lange Aktenreihen: Seit 2020 ist das Archiv zu Papst Pius XII. für Wissenschaftler zugänglich. Foto: kna/Romano Siciliani/Cristian Gennari

Erst einmal müssen wir die Bittschreiben überhaupt finden, systematisieren und digital edieren. Dann müssen wir die Bittsteller identifizieren und jeden Fall rekonstruieren, um abschließend übergeordnete Fragen beantworten zu können, etwa in wie vielen Fällen der Vatikan geholfen oder nicht geholfen hat, welche Briefe Pius XII. selbst gesehen hat und ob er einen Unterschied zwischen „Glaubensjuden“ und konvertierten jüdischen Menschen gemacht hat. Schließlich wollen wir wissen, ob die Hilfe, wenn sie denn gewährt wurde, erfolgreich war oder nicht und ob die Bittsteller den Holocaust überlebt haben. Diese Arbeit dürfte Jahrzehnte in Anspruch nehmen. Wir bemühen uns, entsprechende Finanzierungen zu finden, um das Material im Sinne der Holocaust-Erziehung in Schulen und Demokratiebildung aufzuarbeiten, was heute wichtiger denn je erscheint.

Können Sie schon eine Einschätzung geben, wie der Vatikan mit diesen Briefen umgegangen ist?

Für wissenschaftlich fundierte Aussagen ist es angesichts der schieren Masse des Materials zu früh. Erst wenn alle Bittschreiben und ihre vatikanische Bearbeitung in unserer Datenbank enthalten und ausgezeichnet sind, werden belastbare Antworten möglich sein. Wir können aber bereits sagen, dass man zwei Gruppen von Fällen unterscheiden kann: Solche, in denen der Vatikan selbst helfen konnte, wenn er wollte, und solche, wo er auf die Mithilfe Dritter angewiesen war. Zur ersten Kategorie gehört die finanzielle Hilfe, Vermittlung von Wohnungen und Verstecken, Beschaffung von Informationen über verschwundene Angehörige. Bei der Erteilung von Visa, Aufenthaltserlaubnissen oder der Befreiung aus einem Konzentrationslager konnte der Heilige Stuhl nur als Bittsteller einer staatlichen Stelle gegenüber auftreten. Was ebenfalls schon jetzt feststeht: Bittschreiben jüdischer Menschen sind in der Zeit von 1939 bis 1945 kontinuierlich im Vatikan angekommen. Das bedeutet, dass man in der jüdischen Community also offenkundig nicht den Eindruck hatte, dass Schreiben an den Papst vergebens seien. 

Wie viel Detektivsinn brauchen Sie für Ihre Arbeit?

Historische Arbeit hat prinzipiell einiges mit Kriminalistik zu tun. Man verfolgt Spuren, bildet Hypothesen über mögliche Abläufe, identifiziert beteiligte Personen, versucht herauszufinden, ob und wo es noch Quellen zu diesen gibt. Das führt einen durch unzählige Literatur, von den vatikanischen Archiven in ganz verschiedene Länder und wieder zurück, weil eine Spur möglicherweise falsch war. Dann müssen wir ein neues Szenario entwerfen. Nach 40 Jahren Arbeit in den vatikanischen Archiven habe ich den Vorteil der Erfahrung: Ich weiß inzwischen, wie die vatikanischen Behörden arbeiten und wie sie ihre Akten sortiert haben.

Können Sie das an einem Beispiel erläutern?

Nehmen wir einmal an: Der französische Nuntius hat einen Bericht an den Vatikan geschrieben über die Lage der Juden in Vichy-Frankreich. Der geht in der Regel in der ersten Abteilung des Staatssekretariats, dem Außenministerium, ein. Diese Behörde hat ein eigenes Archiv, das nicht mit dem Vatikanischen Apostolischen Archiv vereint ist. Eigentlich müsste der Bericht in der chronologischen Serie der Nuntiaturberichte in der Länderabteilung Francia liegen. Ich bestellte deshalb die einschlägigen Akten – und lag falsch. Nach weiteren Recherchen wird klar: Das Staatssekretariat hat damals offenbar thematische Sachakten zum Thema „Juden“ gebildet und diese, ohne einen Verweis in die Akten zu legen, aus der chronologischen Serie entnommen. In den Sachakten findet man dann den Bericht mit einer entsprechenden Protokollnummer.

Und dann?

Dann geht man über den Damasushof vom Archiv des Staatssekretariats ins Vatikanische Apostolische Archiv. Dort liegt unter anderem das Archiv der Nuntiatur, das in Frankreich entstand und später nach Rom überführt worden ist. Mit der Protokollnummer aus dem Archiv des Staatssekretariats findet man dann den Entwurf des Berichts und die Beiakten und kann erkennen, woher der Nuntius seine Informationen hatte und vor allem, welche er nach Rom mit welchem Kommentar weitergegeben hat – und welche nicht. Es bleibt die entscheidende Frage: Hat der Papst davon erfahren oder nicht?

Wie können Sie das herausfinden?

Das ist relativ schwierig. Bisher sehen wir einen vielversprechenden Weg: Der einzige hochrangige Mitarbeiter der Kurie, der bezüglich der Bittschreiben regelmäßig Zugang zu Pius XII. hatte, war der Substitut der zweiten Abteilung des Staatssekretariats – dem „Innenministerium“ des Vatikans. Für Giovanni Battista Montini, den späteren Paul VI., gibt es ein eigenes Archiv, das bislang aber nur teilweise zugänglich ist. Bislang wissen wir nur, dass Montini tatsächlich Akten, auch jüdische Bittbriefe, mit zum Papst nahm. Manchmal notierte er das Datum der Audienz und den Beschluss des Papstes dazu auf dem Brief. Das ist dann wirklich echtes Glück für uns. 

Glauben Sie, dass Ihre Arbeit Auswirkungen auf das Bild von Papst Pius XII. und die Frage nach seiner Seligsprechung haben wird?

Das Archiv zu Pius XII. umfasst mehrere hunderttausend Schachteln Material. In einem Seligsprechungsverfahren müssen die Mitglieder der historischen Kommission beeiden, dass sie alle einschlägigen Dokumente und ungedruckten Quellen, die es zu dem Diener Gottes gibt, gesehen haben und mit den Methoden der historisch-kritischen Wissenschaft exakt ausgewertet haben. Dabei dürfen die negativen Aspekte nicht verschwiegen werden, sondern müssen ausdrücklich kenntlich gemacht werden. Wenn das gilt, muss das Seligsprechungsverfahren für Pius XII. solange unterbrochen werden, bis diese Dokumente, die Papst Franziskus zugänglich gemacht hat, wirklich aufgearbeitet sind. Wie sollte man sonst den geforderten Eid schwören können? Transparenz, von der jetzt in Rom so oft die Rede ist, heißt, die Quellen sprechen zu lassen. 

Und dann?

Wenn das nach 20 oder 25 Jahren getan ist, werden wir sicher zu einem differenzierteren Bild des Papstes kommen. Wenn die Wissenschaftler etwas finden, das den Papst belastet – dann ist das so. Es kann aber auch sein, dass sein Bild anschließend viel heller ist. Und vielleicht sollte man sich bei der Rolle der katholischen Kirche während des Holocaust nicht wie bisher ausschließlich auf Pius XII. und sein „Schweigen“ konzentrieren, sondern zumindest die Kurie und den Mitarbeiterstab des Papstes mitberücksichtigen. Denn es zeigt sich, ihren Memos kommt für die Entscheidungsfindung im Vatikan zentrale Bedeutung zu. Wie hätte der Papst auch täglich hunderte von Dokumenten selbst lesen und bearbeiten wollen?

Zur Person
Hubert Wolf ist Professor für Mittlere und Neuere Kirchengeschichte an der Universität Münster. Wolf, der 1985 zum Priester geweiht worden ist, forscht unter anderem zum Verhältnis der katholischen Kirche zum Nationalsozialismus und zu anderen totalitären und autoritären Regimen des 20. Jahrhunderts. Neben der Forschung im Vatikanischen Apostolischen Archiv zum Projekt „Asking the Pope for Help“ untersucht er außerdem die Buchzensur durch die Römische Inquisition, verfasst eine Online-Edition zu Nuntiaturberichten von Eugenio Pacelli, dem späteren Pius XII., und schreibt eine Online-Edition der Tagebücher von Kardinal Michael von Faulhaber.

Kerstin Ostendorf