Die KirchenZeitung hat sich auf die Spuren von Ursula und Georg Levy gemacht

Kinder, die durch die Hölle gingen

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Eine Sonderausstellung in der Gedenkstätte Bergen Belsen widmet sich dem Schicksal der Kinder im früheren Konzentrationslager. KiZ-Mitarbeiter Tillo Nestmann hat sich auf die Spuren von Ursula und Georg Levy gemacht. Beide, inzwischen weit über 80, leben heute in Amerika.


Gabriele Vogt vom Hildesheimer Bistumsarchiv zeigt
das Schreiben aus Holland. Der Bischof von Hildesheim,
Joseph Godehard Machens, wird um Unterstützung
von jüdischen Kindern gebeten. | Foto: Edmund Deppe

Gabriele Vogt vom Hildesheimer Bistumsarchiv zeigt ein Blatt Papier. Es ist die Abschrift einer Bitte aus dem Jahr 1944 an den damaligen Hildesheimer Bischof Joseph Godehard Machens. Der Generalvikar der niederländischen Diözese ’s-Hertogenbosch bittet den deutschen Bischof um Unterstützung zweier jüdischstämmiger, aber katholisch getaufter Kinder. Die Kinder befänden sich in einem Internierungslager in Celle.

„Internierungslager in Celle? Damit konnte es sich nur um das KZ Bergen Belsen im Landkreis Celle handeln“, sagt Gabriele Vogt. Die Historikerin konnte im Bistumsarchiv keine  Antwort an den niederländischen Generalvikar und keine Anweisungen von Bischof Machens für diese Kinder finden.

Die Kinder haben überlebt und leben heute noch. Die KirchenZeitung machte Ursula Levy (82) und George Levy-Mueller (87) in der Nähe von Chicago ausfindig. Die aus dem ostwestfälischen Lippstadt stammenden Senioren berichteten über ihre Familiengeschichte, über Drangsalierungen, aber auch selbstlose Hilfe und den Kampf niederländischer Laien und Nonnen für ihr Überleben.

„Die Macht der Nazis haben wir anfangs unterschätzt“

Ursula Levy sagt: „Meine Eltern Max und Lucia Levy hatten in Lippstadt ein Textil- und Manufakturwarengeschäft. Die Machtergreifung der Nazis im Jahr 1933 hatten sie als nicht so gefährlich wahrgenommen. Mein Vater war im Ersten Weltkrieg mit dem Eisernen Kreuz ausgezeichnet worden, sein Bruder Georg in Frankreich gefallen. Auch seine Schwager hatten als Soldaten gedient.“ Ihr Bruder Georg, der jetzt George Levy Mueller heißt, ergänzt: „Ich war selbst zwei Tage in der Kinder-HJ, dem Jungvolk, bis man mich als Juden erkannte und hinauswarf.“

Nach dem Erlass der Nürnberger Rassengesetze im Jahr 1935 sagt der arische Onkel Joseph Müller: „Ihr Juden seid in Gefahr. Ihr müsst raus!“ Er selbst ist katholisch und praktiziert als gynäkologischer Facharzt in Osnabrück. Er ist mit Lucia Levys Schwester Irmgard verheiratet, die sich katholisch hat taufen lassen. Beide emigrieren in die USA.

Die Levys in Lippstadt bauen weiter auf ihre guten Kontakte zur arischen Umwelt. Max Levy geht abends gern ins Restaurant „Drei Kronen“, wo er mit Freunden und Nachbarn kegelt. Und wenn sie NS-Propagandaminister Joseph Goebbels auf einem Foto sehen, lachen sie schallend. George Levy-Mueller sagt: „Dieser Nazi sah ja nicht nur aus wie ein typischer Jude, sondern auch noch wie eine Kopie meines Onkels Georg.“ Im Herbst 1938 aber wird es tödlich ernst. Im September wird das Geschäft der Levys „arisiert“. Nach der „Reichskristallnacht“ (9. November 1938) werden Max Levy und sein Bruder Ludwig am 12. November 1938 verhaftet und ins KZ Sachsenhausen deportiert. Am 22. Dezember 1938 werden sie entlassen – zum Sterben. Die SS hat sie ständig verprügelt und in dünner Kleidung bei eisigem Wind Stunden um Stunden Appell stehen lassen. Ludwig Levy stirbt am Ersten Weihnachtstag 1938. Max Levy werden im Lippstädter Krankenhaus noch die erfrorenen Beine amputiert. Aber das hilft nicht mehr. Er stirbt am 12. Januar 1939.

Lucia Levy ist die einzige, die den Sarg mit ihrem verstorbenen Mann auf dem Friedhof begleiten darf. Danach geht es nur noch um Rettung des Lebens, vor allem das ihrer Kinder. Sie wendet sich an Schwager und Schwester in den USA. Die können selber nicht helfen und schalten in den Niederlanden Jos van Mackelenbergh ein. Van Mackelenbergh – Josef Müller kennt ihn aus seiner Zeit in den Niederlanden – ist Leiter der größten katholischen Wohltätigkeitsorganisation.

Nonnen solltend die Kinder wieder aufpäppeln

Van Mackelenbergh wird Vormund und Retter der Levy-Kinder. Er holt sie im April 1939 in die Niederlande. Mutter Lucia will später nachkommen. In einem Brief an van Mackelenbergh bestimmt sie, dass ihre Kinder katholisch getauft werden sollen. Auch sie selbst lässt sich in Deutschland taufen. Durch den „Kindertransport“ erreichen 45 halbjüdische und fünf volljüdische Kinder aus Deutschland ein katholisches Waisenhaus des St.-Jacob-Konvents in Eersel (Provinz Brabant). Hauptaufgabe der Nonnen ist es, arme niederländische Kinder aus Industrieregionen wieder aufzupäppeln.

Auf die Judenkinder aus Deutschland wirkt die Zeit bei den Nonnen als „Kurzzeitparadies“. Denn die Lage wird schon bald bedrohlich. Am 1. September 1939 beginnt der Angriff auf Polen. Mutter Lucia Levy kann nicht mehr ausreisen, nur noch schreiben. Sie muss aus ihrer Wohnung ausziehen und in einem der zwei Lippstädter „Judenhäuser“ wohnen.
 


Ein Bild aus glücklichen Kindheitstagen. zeigt Ursula
und Georg Levy mit ihren Eltern. Kurz darauf begann
für sie die Hölle auf Erden.

Am 10. Mai 1940 marschieren deutsche Truppen in die neutralen Niederlande ein. Die Lage der Judenkinder ändert sich dramatisch. Sie müssen den Stern tragen. Dann werden die volljüdischen Kinder von niederländischen Polizisten für den Transport ins KZ abgeholt. Aber Mater Reynildis, die Priorin, sorgte dafür, „dass wir Kinder vorher wochenlang regelrecht gemästet wurden. Im April 1943 kamen mein Bruder und ich ins niederländische KZ Vught. Da war ich noch richtig drall. Ich hatte etwas zuzusetzen, und das hat mir geholfen“, sagt Ursula Levy.

Noch mehr geholfen hat Jos van Mackelenbergh. Der Vormund hat die Papiere zu den Kindern gefälscht. Den Onkel Joseph Müller in Chicago hat er zu ihrem Vater gemacht. Er hat die Nazis bestochen mit Preisnachlässen in seinem Stahl- und Haushaltswarengeschäft. Und er hat das Glück, dass seine falschen Angaben nicht überprüft werden. So werden die Levys nicht wie andere Judenkinder gleich nach Auschwitz oder Sobibór transportiert, sondern kommen im April 1943 ins KZ Vught (Niederlande), im Oktober 1943 von Vught nach Westerbork und am 15. Februar 1944 nach Bergen Belsen. Denn sie gelten als wertvolle mögliche „Austauschjuden“.

Die tägliche Zigarette ist überlebenswichtig

Dort gibt es keine Gaskammern. Es droht der langsame Tod durch Verhungern. Georg Levy bekommt zu seinem Hungerfraß jeden Tag eine Zigarette. Sie ist lebenswichtig. Denn er kann sie gegen Essen eintauschen. Die Kinder dürfen nach Holland an ihren Vormund schreiben – aber nicht die Wahrheit. Sie schreiben, wie lecker das Essen in Bergen Belsen schmeckt. „Aber wir konnten so mitteilen, dass es uns noch gibt“, sagt Ursula Levy. Jeden Tag beten sie das Vaterunser und das Ave Maria. Im Frühjahr 1945 geht es auf einen dreiwöchigen Transport im Viehwaggon ins KZ Theresienstadt. Am 23. April wird der Zug aber bei Tröbitz in Sachsen von der Roten Armee gestoppt. 320 der in die Waggons Eingesperrten sind auf der Fahrt verhungert. Die Haare der Levy-Kinder sind grau und fast sterben sie nach der Befreiung noch an Typhus. Nach Kriegsende erfahren sie durch ihre Kusine Margret, dass die Mutter mit ihr zusammen erst ins KZ Riga und dann ins KZ Stutthof deportiert wurde, wo sie an Typhus gestorben ist.

Die Geschwister emigrieren 1947 nach Chicago. Dort werden sie von Onkel und Tante adoptiert. Bei einer Besichtigung des Dokumentationszentrums Bergen Belsen hörte George Jahrzente später von zwei Schulklassen, dass alle deutschen Soldaten Mörder gewesen seien. Er erwiderte: „Man darf Menschen nicht über einen Kamm scheren. Meine Vettern zweiten Grades haben in Osnabrück an der Flak gestanden und ihre Heimat verteidigt. Ich habe in Bergen Belsen nur zweimal Brot geschenkt bekommen: einmal von einem Kapo, der ein Berufsverbrecher und Mörder war, und einmal von einem SS-Wachsoldaten.“

Ursula Levy, die als Erwachsene zum Judentum rekonvertierte, sagt: „Meine Familie hat in aller Drangsal auch Hilfe durch Deutsche erfahren. Als meine Mutter sich nach der Reichskristallnacht nicht mehr traute, aus dem Haus zu gehen, um Lebensmittel zu kaufen, haben uns Menschen unterstützt. Offen oder heimlich, auch ein paar Nazis waren darunter, die mit diesem Kurs gegen uns Juden nicht einverstanden waren. Und manchmal stand einfach etwas vor unserer Tür – wie von Heinzelmännchen abgestellt. Und all das sage ich auch in den Schulklassen, wo ich als Zeitzeugin des Holocaust eingeladen werde.“

Tillo Nestmann