Pfarrer Peter Kossen im Interview

„Kommt, jetzt gehen wir da durch!“

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Foto: kna/Lars Berg

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Peter Kossen, Pfarrer in Lengerich im Bistum Münster. Foto: kna/Lars Berg

Die Krise der Kirche verschärft sich. Wie geht es den Priestern damit? Wir haben einen von ihnen gefragt: Peter Kossen, Pfarrer im Bistum Münster. Er spricht über Zorn und Tränen, Zweifel und den Zölibat – und die Frage, warum ihn Jesu Botschaft trotz aller Probleme immer neu antreibt.

Wie geht es Ihnen?

Mir geht es wie vielen Menschen in meiner Gemeinde. Es liegt eine Art Mehltau auf der Stimmung, eine Trauer, auch eine Ratlosigkeit, ein Kopfschütteln. Aber da sind auch Ärger, Frust und Zorn.

Warum?

Wegen der Ursachen der Krisen, in denen die Kirche steckt. Und weil sich der Eindruck aufdrängt: Die Kirche ist nicht in der Lage, diese Krisen zu bewältigen. Und auch wenn hier vor Ort vieles ganz gut läuft, drückt all das trotzdem. Es fehlt die Leichtigkeit, die Freude. Vielen fehlt das Gefühl, sich zu identifizieren mit der Gemeinde. Das ist doch alles mühsam geworden – auch bei Menschen, die immer selbstverständlich mitgemacht haben. 

Spüren auch Sie Zorn?

Ja, ich merke schon, dass ich zornig und ungeduldig werde. Denn ich sehe im Vatikan eine Realitätsverweigerung. Dort wird als Argument gebracht: Wir müssen aufpassen, dass es keine Kirchenspaltung gibt, weil Teile der deutschen Kirche zu weit voranpreschen. Aber man hat doch eine Kirchenspaltung längst zugelassen – zwischen Kirchenleitung und Kirchenvolk, und zwar nicht nur in Deutschland, sondern in ganz vielen Ländern. 

Wie ist es, Priester dieser Kirche zu sein?

Ich versuche, da, wo ich Einfluss nehmen kann, hier vor Ort, für eine andere Kirche zu stehen. Für eine zugewandte, empathische Kirche, die integriert und nicht ausschließt. Aber manchmal habe ich das Gefühl: So schön kann ich gar nicht predigen und so konsequent gar nicht handeln, wie auf der anderen Seite die Glaubwürdigkeit der Kirche zerbröselt.

Wie versuchen Sie das konkret: für eine andere Kirche zu stehen?

Zum Beispiel in der Vorbereitung auf die Erstkommunion und Firmung. Da treffen wir auf eine immer pluralere, buntere Gesellschaft. Das kann man beklagen, muss man aber gar nicht. Wir versuchen, mit den Familien und Kindern einen Glaubensweg zu gehen, der zu ihnen passt. Und wir merken: Das tut ihnen gut. Klar ist doch: Wer sich in der aktuellen Krise der Kirche für solche Sakramente anmeldet, der entscheidet sich bewusst dafür – und will es mit der Kirche zumindest versuchen. 

Was tun Sie noch, um die bunte Gesellschaft von heute anzusprechen?

Wir streamen zum Beispiel am Gründonnerstag eine Agapefeier im Internet. Die Leute können dann an ihrem Ferienort oder zu Hause am Tisch sitzen und mit uns in der Gemeinde ein Gründonnerstagsmahl feiern. Wir wissen, dass sie an so einem Tag nicht ohne Weiteres in die Kirche finden würden. Aber vielleicht lassen sie sich auf so einen Impuls ein. Und wir individualisieren Kirchenführungen für Familien: An Tabernakel, Altar, Taufbecken und Orgel haben wir QR-Codes. Familien können die scannen und kleine Erklärfilme angucken. 

Die Kirche taucht öffentlich fast nur noch in Negativschlagzeilen auf. Zuletzt: der Kirchenaustrittsrekord, die Beurlaubung des Münsteraner Dompropstes Kurt Schulte wegen Vorwürfen grenzverletzenden Verhaltens, der Suizid des Limburger Regens Christof May, die immer neuen Missbrauchsgutachten. Wie gehen Sie damit um?

Ich kenne von mir selbst eine gewisse Versuchung, all das abzuspeichern und dann schnell zu verdrängen – so nach dem Motto: Jetzt habe ich Wichtigeres zu tun, ich will mich damit nicht auseinandersetzen. Aber ich weiß, das ist keine Lösung. Ich bin ja Mitglied des Priesterrates im Bistum Münster, und am vergangenen Freitag haben wir uns mit Bischof Felix Genn in Münster getroffen … 

… gerade zu der Zeit, als die Beurlaubung von Kurt Schulte bekanntgegeben wurde. 

Da habe ich gesehen, wie sehr das alle ratlos und traurig macht. Ich bin auch sprachlos, wenn der Bischof da sitzt und weint. Die Situation ist ja auch zum Heulen. Und trotzdem denke ich: Wir müssen weitergehen. Ich will das alles überhaupt nicht relativieren oder schönreden. Aber eine Krisensituation birgt auch immer die Chance, etwas zu gestalten. Diesen Ehrgeiz, den spüre ich oft: die Schritte zu tun, die jetzt zu tun sind. Ich möchte gern einer sein, der sagt: Kommt, jetzt gehen wir da durch und gucken, dass nachher etwas Besseres dabei rauskommt!

Wie oft verzweifeln Sie?

Ich weiß, dass viele Leute an der Kirche verzweifeln. Ich spüre diese Verzweiflung nicht. Aber ich habe sehr wohl Zweifel daran, dass die Kirche ohne einen großen Crash da durchkommt. Lange habe ich geglaubt, dass sie in der Lage ist, sich immer wieder zu reformieren. Diese Gewissheit ist mir abhanden gekommen. Aber wenn der Laden vor die Wand fährt, müssen wir halt gucken, wie es danach weitergeht. Wo es einen Neuaufbruch gibt. Und wo man Leute sammeln kann, die sagen: jetzt erst recht! 

Als Priester stehen Sie sehr persönlich für die kriselnde Kirche. Wie halten Sie das aus?

Viele Leute sagen mir: „Ich glaube der Kirche nicht mehr alles. Aber dir glaube ich, dass du ehrlich meinst, was du verkündest.“ Diese positiven Rückmeldungen machen es mir möglich, für die Kirche zu stehen. Wir erleben aber auch, dass Leute völlig empört im Pfarrbüro anrufen, weil sie irgendeinen Hinweis auf ein kirchliches Angebot im Briefkasten gefunden haben, und uns Kinderschänder nennen und dann auflegen.

Wie geht’s Ihnen damit?

Das macht mich zornig. Weil es ungerecht ist. Denn auf die allermeisten Haupt- und Ehrenamtlichen in der Kirche trifft dieser Vorwurf eben nicht zu. Andererseits bin  ich Teil dieser Kirche. Dann muss ich auch ertragen, dass das so gesagt wird.

Heute werden in Deutschland kaum noch Priester geweiht. Wie ist das für Sie: einen Beruf zu leben, der auszusterben scheint?

Das ist insofern verheerend, als ich überzeugt bin: Zur Grundstruktur unserer Kirche gehören das Amt und die Feier der Sakramente. Wir können nicht sagen: Okay, da kommt jetzt keiner nach, dann verzichten wir auf die Ämter und stricken die Kirche neu. Wir sind an der Nulllinie. Ich weiß nicht, worauf wir noch warten. Darauf, dass die Priester endgültig ausgestorben sind? Die Krise ist doch ein Hinweis des Heiligen Geistes, dass wir handeln müssen: Die Kirche sollte endlich auch verheiratete Männer und Frauen zur Weihe zulassen.

Mit wem reden Sie, wenn Sie als Priester Probleme haben?

Ich besuche dann Freundinnen und Freunde, auch jenseits der Gemeinde. Wichtig ist mir auch die geistliche Gemeinschaft in der Fokolarbewegung, mit Menschen aus verschiedensten Ländern und Berufen. Und ich habe auch in der Gemeinde eine Reihe Leute, mit denen ich reden kann. Das macht mir Mut.

Gibt es trotzdem manchmal Momente, in denen Sie denken: Ich kann und will nicht mehr Priester sein?

Hatte ich eigentlich noch nicht. Ich habe aber manchmal überlegt: Wie wäre es jetzt, wenn du verheiratet wärst, wenn du eine Partnerin hättest und eine Familie? Das nicht zu haben, ist schon eine Herausforderung. 

Inwiefern?

Ich gehe häufig an die Grenzen dessen, was ich leisten kann, und darüber hinaus. Ich versuche, die Zeit des Tages mehr auszureizen, als es gut ist. Und das hat sicher auch damit zu tun, dass da keiner ist, der sagt: „So, jetzt ist Feierabend!“ Ich merke, dass das da eine Leerstelle ist. Das hat für mich allerdings noch nicht bedeutet, dass ich sage: Ich sehe keine Möglichkeit, das fortzuführen.

Bereuen Sie, den Zölibat versprochen zu haben – gerade wenn Sie sagen, er müsse als Pflicht abgeschafft werden?

Der Zölibat war für mich keine Entscheidung gegen eine Partnerin oder gegen Kinder. Ja, er hinterlässt eine Leerstelle. Das ist nicht leicht. Und wenn es immer nur ein Kampf wäre und das Gefühl, ich verzichte da auf etwas, was keinen Sinn macht, dann wär’s schwierig. Aber das Gefühl habe ich so nicht. Ich glaube nach wie vor, dass ich diese Entscheidung bewusst und überlegt und frei getroffen habe. Der Zölibat ist für mich nicht nur eine disziplinarische Frage, sondern auch eine geistliche Entscheidung.

Inwiefern?

Der tiefste Grund für den Zölibat ist für mich, ehelos dem ehelosen Jesus zu folgen. Er hilft mir, sein Leben für das Reich Gottes möglichst gut nachzuempfinden. Die Institution Kirche rechtfertigt den Zölibat nicht. Wenn, dann rechtfertigt die Beziehung zu Jesus ihn. 

Was ist die Kirche für Sie heute?

Die Kirche hütet immer noch ein Feuer. Sie führt dazu, dass Menschen sich zusammentun, sich Jesu Botschaft erzählen und daraus einen Auftrag ableiten. Das kann die Welt verändern, auch heute. Oft wird diese Botschaft zugemüllt, mit Strukturen, Besitzständen, Denkfaulheit. Aber sie bleibt da und treibt uns an.

Und Sie? Was treibt Sie an?

Häufig treibt mich die Empörung an über die Ungerechtigkeit in und außerhalb der Kirche. Ich glaube, dass es anders geht und anders gehen muss. Ich weiß, es gibt nicht die heile Welt. Aber es gibt Heil in der Welt. Und das hat für mich mit Jesus Christus zu tun. Diese Erfahrung des Heils möchte ich in einer Welt und in einer Kirche, die so verletzlich und verwundet ist, gern vermitteln. Ich möchte aufmerksam machen auf den Gott, der alles im Letzten gut ausgehen lässt.

Andreas Lesch