Bibelspruch als Erziehungsmittel und billiger Trost
Liebe, Leid und Zucht
Die Lesung aus dem Hebräerbrief ist geradezu sprichwörtlich geworden: „Wen der Herr liebt, den züchtigt er.“ Bei vielen ruft sie Empörung hervor, denn viel zu oft wurde sie missbraucht: als Erziehungsmittel oder als billiger Trost.
„Dieser Text ist zu hundert Prozent zeitbedingt“, sagt Thomas Söding, Professor für Neues Testament an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Bochum. „Schläge waren in der Antike, leider Gottes, Standard.“ Auch wenn man sich darunter „keine Gewaltexzesse vorstellen“ müsse, so Söding, galten sie doch als „eine ganz normale Erziehungsmethode“. In der Familie, aber auch etwa im Umgang mit Sklaven.
So ist der vielzitierte Satz auch keine Erfindung des Neuen Testaments. Im alttestamentlichen Buch der Sprüche gibt es ähnlich lautende Erziehungstipps: „Wen der Herr liebt, den züchtigt er, wie ein Vater seinen Sohn, den er gernhat.“ (Spr 3,12). Oder: „Wer die Rute spart, hasst seinen Sohn, wer ihn liebt, nimmt ihn früh in Zucht.“ (Spr 13,24). Oder: „Erspar dem Knaben die Züchtigung nicht; wenn du ihn schlägst mit dem Stock, wird er nicht sterben.“ (Spr 23,13).
Erschlaffte Hände und wankende Knie
Prügel waren aber nicht nur in der Antike Standard. Bis in die 1970er Jahre hinein wurden Kinder mehr oder weniger regelmäßig geschlagen – in der Familie von den Eltern, in der Schule von Lehrern. Oder in Kinderheimen und Internaten von Ordensschwestern oder Priestern. Körperliche Züchtigung war normal und wurde nicht selten mit genau dieser Bibelstelle begründet: „Haltet aus, wenn ihr gezüchtigt werdet! ... Denn wo ist ein Sohn, den sein Vater nicht züchtigt?“ Zu seinem eigenen Besten natürlich; eine wertvolle „Schule des Lebens“ sei dieses Leid.
Zum Glück sehen wir das heute anders, die Prügelstrafe ist verpönt, ja, sogar gesetzlich verboten – in Deutschland übrigens erst seit dem Jahr 2000! Aber das ist auch nur die Bildebene dieses Textes aus dem Hebräerbrief. Eigentlich geht es nicht um Prügel-Pädagogik, es geht um eine Lebensweisheit für alle.
„Als der Hebräerbrief gegen Ende des 1. Jahrhunderts geschrieben wurde, steckte die Gemeinde in einer Glaubenskrise“, sagt Thomas Söding. Das sei einerseits auf gesellschaftliche Ablehnung bis hin zur Verfolgung zurückzuführen. „Aber es gab auch Verunsicherung im persönlichen Glauben. ,Wo ist Gott im Alltag?‘, fragten sich die Christen, ,wo ist Gott, wenn es schwierig wird?‘“, so der Bibelwissenschaftler. In dieser Situation wolle der Brief, der eigentlich eher eine Predigt ist, Mut machen, sagt Söding. „Hadert nicht bei Schicksalsschlägen. Geht einen Schritt weiter. Nicht aus allem, aber aus manchem Leid kann Gutes erwachsen.“
Will Gott also, dass wir leiden? Schickt er uns Leid, weil er uns liebt? Zur Weiterentwicklung der Persönlichkeit? Oder ist Leid gar eine Strafe, eine Erziehungsmaßnahme, weil wir uns falsch verhalten haben und aus Fehlern lernen sollen? „Nein“, sagt Thomas Söding, „das wäre zynisch, sich Schicksalsschläge so schönzureden.“ Auch wenn es in biblischer Zeit die Vorstellung eines Zusammenhangs von Tun und Ergehen, von gottesfürchtigem Leben und gottgeschenktem Glück, von Schuld und Strafe durchaus gab.
Eine Ermutigung in schweren Zeiten
Söding sieht die Reihenfolge eher andersherum. „Gott handelt in dem, was im Leben auf uns zukommt“, sagt er. „In allem, was auf uns zukommt. Er ist kein Schönwettergott, der nur in guten Zeiten bei uns ist.“ Gott lässt uns nicht leiden, weil er uns liebt, wie der Satz „Wen der Herr liebt, den züchtigt er“, manche vermuten lässt. Sondern: Weil Gott uns liebt, bleibt er uns nahe, auch wenn wir leiden, „damit wir am Schicksalsschlag nicht zerbrechen, sondern daran wachsen können“, sagt Söding.
Und so endet der Text auch hoffnungsvoll: „Darum macht die erschlafften Hände und die wankenden Knie wieder stark, schafft ebene Wege für eure Füße, damit die lahmen Glieder nicht ausgerenkt, sondern vielmehr geheilt werden!“ Das klingt nicht nach Strafbataillon, sondern nach Ermutigung in schwerer Zeit.
Und warum soll man das glauben? Weil es ein Vorbild gibt, jemand, der bezeugt, dass aus Leid Leben hervorgehen kann: Jesus selbst. „Man muss die Lesung im Zusammenhang sehen mit dem, was direkt davor steht“, sagt Thomas Söding. Denn dort heißt es: „Lasst uns mit Ausdauer in dem Wettkampf laufen, der vor uns liegt, und dabei auf Jesus blicken, den Urheber und Vollender des Glaubens; er hat angesichts der vor ihm liegenden Freude das Kreuz auf sich genommen, ohne auf die Schande zu achten und sich zur Rechten von Gottes Thron gesetzt.“ (Hebr 12,1–2). Aus Leid wird Leben.
Und dennoch: Der Text aus dem Hebräerbrief eckt an, weckt bei manchen üble Erinnerungen. Auch deshalb wird er wohl in vielen Gottesdiensten gar nicht gelesen. Wort Gottes ist er trotzdem – im Wort von Menschen.
Susanne Haverkamp