Anstoß 02/23
Mehr als man sehen kann
Ich habe es in meinem Leben schon mindestens tausend Mal gesungen, das altbekannte Weihnachtslied „Es ist ein Ros entsprungen“. Doch erst am gerade vergangenen Weihnachtsfest ist es mir aufgefallen – bei einem Fernsehgottesdienst.
Erfreulicherweise wird darin nicht nur die Nummer eines Liedes aus dem Gotteslob angegeben, das gerade gesungen wird. Auch der Liedtext wird mit eingeblendet. Obwohl ich den Text von „Es ist ein Ros entsprungen“ in- und auswendig kenne, las ich ihn mit, als er auf dem Bildschirm erschien. Da ist es mir aufgefallen. In der dritten Strophe heißt es nämlich: „Das Blümelein so kleine, das duftet uns so süß. Mit seinem hellen Scheine vertreibt’s die Finsternis. Wahr’ Mensch und wahrer Gott, hilft uns aus allem Leide, rettet von Sünd’ und Tod.“
Den Text so sichtbar vor Augen stutzte ich. Müsste es nicht „hilft uns in allem Leide“ heißen? Dass Gott aus allem Leide hilft, kann ja leicht missverstanden werden. Es verführt zu dem Glauben, dass Gott allem Leid ein Ende setzt. Die Wirklichkeit spricht nicht gerade dafür.
Gott als Retter der Welt heißt nicht, dass er meine Probleme löst. Es heißt nicht, dass nun alles heil und gut ist – jedenfalls nicht oberflächlich betrachtet. Das darf nicht verschwiegen werden, es gehört zum Glauben an Gott dazu. Aber es ist kein Grund für Pessimismus. Alle Weihnachtsfreude, Glaubensfreude überhaupt, ist berechtigt. Sie ist auch dann berechtigt, wenn die äußeren Umstände dagegen sprechen. Weil es einen Grund gibt, der viel tiefer geht und der sich vermutlich nur mit dem Herzen erfassen lässt.
Rundfunkbeauftragte/ Bistum Erfurt