Museum Lüneburg
Mit den Heiligen auf Augenhöhe
Das Museum Lüneburg besitzt einen reichen Schatz an mittelalterlichen Kunstwerken aus den benachbarten Kirchen und Klöstern. Um Brücken zur Gegenwart zu bauen, werden Führungen zur Achtsamkeit angeboten.
Selten kommt man ihnen so nah wie hier. Die Gesichter voller Schmerz und Hoffnung, die Hände gefaltet, die Gewänder in Falten gelegt: Maria und Johannes betrauern den Gekreuzigten in ihrer Mitte.
Die Triumphkreuz-Gruppe aus dem späten 15. Jahrhundert stammt aus der St.-Johannis-Kirche, dem ältesten Gotteshaus in Lüneburg, längst steht sie im Museum Lüneburg, ebenerdig, face to face. Jedes Detail der hölzernen Skulpturen wird sichtbar, auch jede Verletzung, die die Zeit mit sich bringt.
„Wir wollen diese Figuren auf Augenhöhe präsentieren, das ist uns sehr wichtig. In den Kirchen richtete sich der Blick nach oben, die Kunstwerke sind entrückt, hier kann man ihnen direkt begegnen. Das ist eine ganz andere Erfahrung,“ erläutert Museumsdirektorin Heike Düselder. „Die Wirkung auf die Menschen ist enorm. Vieles sieht man nur, wenn man direkt davor steht. Für die Besucherinnen und Besucher sind dies oft auch Momente zum Herunterkommen.“
Altäre, Heilige, Hostienschränke, Reliquienkästchen, kostbare liturgische Stoffe oder auch die Nachbildung der berühmten Ebstorfer Weltkarte aus dem nahe gelegenen Kloster Ebstorf, deren Original aus der Zeit um 1300 im Zweiten Weltkrieg verbrannt ist, sind im Museum Lüneburg zu sehen.
Im Zentrum der großen „mappa mundi“, die das Denken und Wissen der mittelalterlichen Welt eindrucksvoll vor Augen führt, liegt die heilige Stadt Jerusalem, verzeichnet sind aber auch Städte wie Lüneburg, Braunschweig oder Rom, dieser frühe Vorläufer von Google Earth mit theologischem Fundament ist eine Mischung aus Geografie, biblischen Geschichten, Sagen und Legenden. „Die Karte ist voller Details, man kann hier in eine andere Gedankenwelt eintauchen“, betont die Historikerin.
Menschen mit Handicap als Aufsichtspersonal
Als Aufsichtspersonal arbeiten Menschen mit Handicap in Kooperation mit der Lebenshilfe. „Wir haben hier im Team gemeinsam gute Erfahrungen gemacht. Unsere Aufsichten arbeiten seit sieben Jahren bei uns im Haus, sie kennen und lieben die Objekte, inzwischen entwickeln einige von ihnen Führungen in einfacher Sprache, auch dabei werden sie sozialpädagogisch betreut.“
Kunst und Inklusion, im Museum Lüneburg funktioniert die Zusammenarbeit so gut, dass in diesem Zusammenhang mehrere neue Projekte entstanden sind. „Wir haben gemerkt, wie positiv sich Kunst und Kunstbetrachtung auf Menschen auswirken können“. Inzwischen werden sogenannte Achtsamkeits-Führungen angeboten, hier stehen nur wenige Werke im Fokus, dafür werden sie unter der Anleitung von ausgebildeten Coaches umso intensiver betrachtet. Ein Vorhaben, das kurz vor der Pandemie an den Start ging und nun wieder anläuft. „Das funktioniert hervorragend“, freut sich die Museumsdirektorin. Inzwischen ist ein weiteres Projekt gestartet, dabei soll medizinisch untersucht werden, auf welche Weise das Betrachten von Kunstwerken das Gehirn stimuliert. Wie steht es also um die Heilkraft von Kunst?
Lüneburg als Stadt der Bewahrung
„Uns geht es um die Wertschätzung von Kunst und Kultur. Wichtig ist uns das gemeinsame Erleben, das Museum ist schließlich ein sozialer Ort.“ Ein Ort der Begegnung, der an die Blütezeit der reichen und mächtigen Hansestadt Lüneburg im 15. und 16. Jahrhundert erinnert. Damals gab es acht Gotteshäuser in der Stadt, die prachtvoll ausgestattet waren. Ein Teil des Inventars wird im Museum am Rand der Altstadt verwahrt, das im 19. Jahrhundert gegründet und 2015 mit einem Neubau erweitert wurde. Eine große Fensterfront gibt den Blick frei auf die backsteinroten Kirchtürme der historischen Salzstadt. „Lüneburg ist eine Stadt der Bewahrung. Wir haben hier 1300 Baudenkmäler, die Altstadt blieb selbst während der beiden großen Weltkriege im 20. Jahrhundert unzerstört“, berichtet Düselder.
Auch in den Altstadt-Kirchen finden sich zahlreiche Kunstschätze, auf diese Weise kann sich ein Dialog zwischen den Werken in den Gotteshäusern und den Objekten im Museum entwickeln. Etwa bei einem Andachtsbild aus dem 16. Jahrhundert mit der Auferstehungsszene, das ursprünglich in der St.-Johannis-Kirche hing, ähnliche Motive sind heute noch vor Ort in der gotischen Backsteinkirche erhalten. Die Kuratorinnen und Kuratoren legen großen Wert darauf, die religiösen und kulturellen Zusammenhänge innerhalb der Stadt aufzuzeigen.
Beim Thema „Glauben und Wissen“ beispielsweise geht es um die Transformationsprozesse während der Reformationszeit. Welche Auswirkungen die Reformation des Glaubens auf die Kunst hatte, lässt sich an zwei Altären ablesen, die einander gegenüber hängen: „Bilder lesen, Worte begreifen“ ist diese Raumflucht überschrieben. Zu sehen ist an der einen Wand ein bildreich geschnitzter Altar, der 1516 im Kloster Lüne geweiht wurde – dargestellt ist auch die Legende der „Marter der Zehntausend“, die von 10 000 frisch bekehrten Soldaten erzählt, die vom römischen Kaiser zur Strafe für ihren christlichen Glauben auf Dornen gespießt, gefoltert und gekreuzigt wurden. Eine geradezu filmreife, hoch dramatische Szenerie, wer genau hinschaut, braucht starke Nerven.
Dieses effektvolle katholische Bildwerk ist das Kontrastprogramm zum schlichten protestantischen Schriftaltar aus der Gutskapelle Heiligenthal, eine Arbeit aus dem späten 16. Jahrhundert. Hier gibt es keine Bilder, hier zählt allein die Schrift, nach dem lutherischen Grundsatz „sola scriptura“. Flankiert wird diese Schule des Sehens von Reliefs aus der Legende der heiligen Elisabeth und weiteren figürlichen Darstellungen.
Wissensverlust durch Führungen begegnen
„Wir merken, dass immer mehr Wissen über die religiöse Bedeutung dieser Exponate verloren geht. Man muss vieles erklären, aber es gibt auch viele Anknüpfungspunkte“. Heike Düselder und ihr Team bieten regelmäßig spezielle Themenführungen an, dazu gehören nicht nur die kirchlichen Objekte und archäologischen Funde, es geht auch um naturkundliche Aspekte und Fragen der Nachhaltigkeit. „Dabei ergeben sich zahlreiche Zusammenhänge, das ist auch für uns spannend“. Zu den bedeutenden Schätzen der Sammlung gehört das Heiligenthaler Altartuch aus dem 14. Jahrhundert, das im benachbarten Kloster Lüne aufwendig restauriert wurde. Man sieht hier 38 Szenen aus dem Leben Jesu, die durch Engel voneinander abgetrennt werden.
Museumschefin Heike Düselder verweist auf ein besonders anrührendes Detail zur Himmelfahrt Christi: Christus ist schon ein Stück weit auf dem Weg in den Himmel, doch auf dem Berg hat er, das ist deutlich zu sehen, seine Fußabdrücke hinterlassen. Ein frommes Wimmelbild in farbiger Seide auf Leinen: Wer nah genug herantritt, kann auch hier noch einiges entdecken.
Das Museum Lüneburg ist dienstags, mittwochs und freitags von 11 bis 18 Uhr, donnerstags bis 20 Uhr geöffnet. Am Wochenende und an Feiertagen von 10 bis 18 Uhr. Informationen unter
www.museumlueneburg.de.
Karin Dzionara