Streiten lernen

Schweigen? Pöbeln? Streiten!

Wie sollen wir umgehen mit Flüchtlingen und Migration? Oft stehen sich die Menschen in Deutschland in dieser Frage unversöhnlich gegenüber. Wie bei so vielen Themen. Sie beschimpfen sich, statt aufeinander zu hören. Dabei kann jeder konstruktiv debattieren. Wenn er will.

Ach, die anderen. Was die wieder daherquatschen, das geht gar nicht! Ahnungsloser Unfug. Verblendeter Mist. Mit denen kann man nicht reden! Oder doch?

Diese Hoffnung hat es in unserer Gesellschaft zurzeit schwer. In den großen Debatten, vor allem um Flüchtlinge und Migration, reden die Menschen oft übereinander, selten miteinander. Viele beschimpfen sich, statt Argumente auszutauschen. Werden laut, statt auch mal leise zu sein. Wollen nicht ihre Gesprächspartner verstehen, sondern nur ihre Meinung durchboxen.

Die Menschen scheinen vergessen zu haben, wie man konstruktiv streitet. Wie können sie es wieder lernen? Wie können zwei, die gegensätzliche Ansichten vertreten, miteinander ins Gespräch kommen und im Gespräch bleiben? Zuallererst vielleicht dadurch, dass sie Fragen stellen. Und nicht glauben, alle Antworten zu kennen. Damit kann jeder bei sich selbst anfangen. Er kann sich, etwa in der Migrationsdebatte, fragen: Bin ich seriös über das Thema informiert? Denke ich richtig über das Thema nach? Oder lasse ich mich im Internet nur in meinen Gefühlen darüber bestätigen?

Wer dann in der Diskussion einen Irrtum seines Gesprächspartners vermutet, der kann nachhaken: Bist du sicher? Dadurch, so sagt der Tübinger Rhetorik-Professor Joachim Knape, zeige sich, ob der andere recht behalten will – oder daran interessiert ist, gemeinsam einen Standpunkt zu finden, der nicht auf Irrtümern basiert. „Wenn ich einfach nur ,Quatsch!‘ rufe, geht beim anderen gleich das Visier runter. Dann denkt er erst recht, dass er recht hat“, betont Knape.


Höflichkeit hilft, aber sie hat auch Grenzen

Wer einen Dialog will, der kommt mit einem Lächeln weiter als mit einer Rüge. Er muss höflich sein und sein Gegenüber ernst nehmen. Aber auch das hat Grenzen. Wer merkt, dass sein Gesprächspartner vorsätzlich mit falschen Informationen hantiert, sich trotz aller Bemühungen keinen Millimeter bewegt, sich im Ton vergreift, der kann sich abwenden. Weil das Gespräch dann wohl nichts mehr wird. „In einem echten Gespräch“, sagt Knape, „gibt es immer eine Schnittmenge zwischen den Gesprächspartnern.“ Die Abwendung ist für ihn „die letzte Lösung“. Was vorher hilft, ist: den aggressiven Ton nicht mitmachen. Und versuchen, wieder Ruhe ins Gespräch zu bringen. Vielleicht durch eine Pause, einen Kaffee zwischendurch.

Wenn wir wollen, dass die Gesellschaft nicht weiter gespalten wird, dann sollten wir die Kunst des Streitens neu entdecken. In der richtigen Haltung kann das gelingen. Und durch Offenheit. „Mit dem Respekt vor den Sorgen der anderen geht in einer Demokratie jede Verständigung los“, sagt Knape. „Welche Lösungen für die Probleme, die den anderen Sorgen machen, dann die richtigen sind, ist noch mal eine ganz andere Frage.“

Andreas Lesch