Leben mit Sehbehinderung

Sie macht Mut

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Porträt von Hildegard Stukenborg mit ihrer abgedunkelten Kantenfilterbrille
Nachweis

Foto: Michael Rottmann

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Hildegard Stukenborg mit der ihrer Kantenfilterbrille, ohne die sie das Haus nicht verlassen kann

Hildegard Stukenborg kann selbst nur noch wenig sehen. Aber genau das und ihr Gottvertrauen treiben sie an zum Einsatz für andere sehbehinderte Menschen. Sie hört zu und stellt Kontakte her – so kann sie vielen helfen.

Besonders schlimm ist es, wenn es Kinder trifft. Hildegard Stukenborg hat auch solche Fälle im Kopf. Wie den Jungen aus einem Nachbarort ihrer Heimatstadt Vechta. „Er ist zwölf Jahre alt, besucht das Gymnasium, und sein Augenlicht geht nach und nach zurück.“ Ein hartes Schicksal. Aber auch für Ältere sei eine Erblindung ein schwerer Schlag. Für manche bricht ein Lebensentwurf zusammen. Wie für die 26-jährige sehbehinderte Frau, die sich nach dem Abitur nur noch um ihre ebenfalls blinde Mutter gekümmert hatte – bis zu deren Tod. Verzweifelt und bisher vergeblich sucht sie nach einem Einstieg in Beruf oder Studium.

Stukenborg sagt: „Ich will ihr jetzt wieder auf die Sprünge helfen.“ Das Bild umschreibt plastisch, was sie meint: Kontakte herstellen, Möglichkeiten aufzeigen und vor allem Mut für die Zukunft machen. So wie schon so vielen vor ihr.

Sie will anderen neue Wege aufzeigen

So versteht die Rentnerin ihre Aufgabe als Vorsitzende des Blinden- und Sehbehindertenverbands Niedersachsen in der Region Oldenburg: Ansprechpartnerin zu sein und neue Wege aufzuzeigen. Schließlich weiß sie genau, wovon sie spricht. „Ich bin selbst mit einer Sehbehinderung geboren“, erklärt sie. Doch erst im Alter von drei Jahren hatte ein Augenarzt das festgestellt. „Auf einem Auge sah ich gar nichts, auf dem anderen noch 70 Prozent.“ Mittlerweile sind es nur noch etwa 30.

Vor acht Jahren hat die ehemalige Verwaltungsangestellte ihren Führerschein abgegeben. Der Sessel in ihrem Wohnzimmer steht direkt vorm Fernsehbildschirm. „Ich muss ganz nah ranrücken.“ Aber so viel schaue sie gar nicht. „Ich höre mehr Radio“, sagt sie.

Die Sehschwäche ist nicht ihr einziges Problem. Dazu kommt eine extreme Lichtallergie. In der Wohnung dämpfen Vorhänge und Rollläden die Strahlen der Sonne. Nach draußen traut sich Stukenborg nur mit einer speziellen Kantenfilterbrille. Die reduziert die Anteile des Lichts, die sie nicht verträgt. Sogar die LED-Strahler in ihrer Pfarrkirche sind zu grell und bunt für sie, deshalb geht sie sonntags in die Klosterkirche der Dominikaner. Denn der Kirch­gang ist ihr wichtig.

Seit rund 25 Jahren setzt sie sich für Menschen mit ähnlichen Problemen ein, zum einen im Blinden- und Sehbehindertenverband, zum anderen im Katholischen Blinden- und Sehbehindertenwerk Norddeutschland (KBSW). Seit mehr als drei Jahren ist die ledige Frau als stellvertretende Vorsitzende mitzuständig für die Bistümer Hildesheim, Osnabrück und Hamburg sowie für den niedersächsischen Teil des Bistums Münster.

Für ihren Einsatz in beiden Verbänden gilt: Sie will Betroffenen Mut und Hoffnung schenken. Genau daran fehle es vielen, die in ihrer Not auch mal nachts oder am Wochenende direkt bei ihr anrufen, erzählt sie. Zum Beispiel Menschen, deren Augenlicht nach und nach immer mehr schwindet – und die nicht weiterwissen. Die manchmal verzweifelt mit den Tränen kämpfen.

Stukenborg bleibt dann am Apparat, hört zu und überlegt, wie sie helfen kann. Manchmal funktioniert das gut. So wie bei dem mittlerweile 30-jährigen jungen Mann mit zehn Prozent Rest-Sehstärke. Dessen Lehrer hatte sich bei ihr gemeldet und die Not seines Schülers geschildert: Er wolle nach abgeschlossener Höheren Handelsschule Industriekaufmann werden, erhalte aber eine Lehrstellen-Absage nach der anderen. Bis sich Hildegard Stukenborg einschaltete – und nicht lange fackelte.

Kurzerhand ließ sich die Vertreterin des Blindenverbands mit der Personalabteilung einer großen Firma in der Region verbinden. Zwei Tage später hatte der Heranwachsende dort ein Vorstellungsgespräch und am Montag drauf einen Ausbildungsplatz in der Tasche. Stukenborg lächelt zufrieden und sagt: „Anschließend hat er sein Abitur nachgeholt, studiert und arbeitet jetzt in Bremen.“ Sie steht weiter mit ihm in Verbindung.

Es sind aber nicht nur die ganz schwierigen Fälle, um die sich ihr Einsatz dreht. Im Auftrag des Blindenwerks ist sie auch schon mal bei Senioren unterwegs, die Hilfe bei der Bewältigung ihres Alltags benötigen. Wo es um Fragen geht wie: „Wie kann ich den Herd sicher bedienen, wenn ich die Zahlen auf den Griffen nicht mehr erkennen kann?“

Das Lesen und die Uhrzeit seien ebenfalls Alltagsprobleme, sagt Stukenborg. Doch zumindest für das zweite Problem gibt es Lösungen. Etwa eine Uhr, die auf Knopfdruck die Zeit ansagt. Oder der Onlinesprachservice Alexa, der auf Nachfrage auch das Wetter vorhersagt oder Musik abspielt.

Praktische Hilfen und Zuspruch sind wichtig

Nicht immer geht es um praktische Hilfe. Aus Kontakten über den Katholischen Blindenverband weiß Stukenborg, wie wichtig vielen auch Zuspruch und Seelsorge sind. Sofort fällt ihr die Geschichte einer Frau aus der Region ein, der sie den Kontakt zu einem Priester vermittelt hat und die ihr immer wieder berichtet, wie gut ihr das tue, dass er regelmäßig zu ihr komme, um ihr zuzuhören. „Genau das brauchen viele: Menschen, die einfach nur zuhören“, sagt sie.

Wichtig sei für viele der Glaube, auch für sie selbst. „Wenn ich den nicht hätte, könnte ich das alles nicht“, ist Stukenborg überzeugt. Der Kirchgang am Sonntag zählt für sie ebenso dazu wie tägliche Gebete, etwa das Gesätz des Rosenkranzes, das sie auch immer morgens auf dem Weg zur Arbeit gesprochen hat. 

„Das ist für mich wichtig“, sagt Hildegard Stukenborg. Genauso wie Gottesdienste. „Wo ich Gemeinschaft mit anderen erleben kann.“ Und auch als Ort, um Kraft zu tanken.

Michael Rottmann