Spirituelle Suche auf dem Katholikentag
Stille Orte, lebhafte Bibelrunden
Auf der Suche nach Spiritualität: Beim Katholikentag in Stuttgart waren Bibelrunden, Meditationskurse und Exerzitien besonders gut besucht.
Es ist gar nicht so einfach, ihn zu finden: den stillsten Ort des Katholikentags in Stuttgart: Das Programmheft lotst den nach Ruhe und spiritueller Einkehr dürstenden Besucher weg von der Kirchenmeile zu einem profanen Verwaltungsgebäude. Im Zentrum der regionalen Industrie- und Handelskammer soll es einen "interreligiösen Ort" geben - für Meditation, Gebet - und eben ganz viel Stille.
Aber wo ist er denn nun? Zwei junge Helferinnen am Eingang des IHK-Hauses versuchen, den Weg zu beschreiben. "Im zweiten Stock, aber es ist ein wenig versteckt", sagte die eine. "Wenn Sie suchen, finden Sie ihn bestimmt", so die wenig ermutigenden Worte der anderen. Ob denn schon mal jemand dort gewesen sei? "Schwer zu sagen." Der Raum der Stille sei jedenfalls kein Besuchermagnet.
Tatsächlich dauert die Suche eine ganze Weile. Über etliche Treppenstufen, vorbei an mehreren Workshops und Diskussionsrunden erblickt man schließlich den ersehnten Hinweiszettel. Die Tür zu Konferenzraum 236 steht offen, niemand ist hier. Im Inneren finden sich - akkurat an der Wand aufgereiht - einige Dutzend Meditationshocker, daneben blaue Sitzkissen auf Kartons, die mit dem Motto des Katholikentags bedruckt sind: leben teilen. Für den interreligiösen Charakter sorgen drei muslimische Gebetsteppiche in verschiedenen Farben, die in der Mitte auf dem Boden ausgelegt sind. Zwei wuchtige schwarze Blumenkübel runden die Einrichtung ab.
Mehr Stille geht nicht, die Veranstalter haben nicht zu viel versprochen. Wer in Raum 236 die Tür hinter sich schließt, ist wirklich ganz bei sich - und doch Teil des Katholikentags mit seinen Tausenden Besuchern. Aber das Glaubensfest hätte seinen Sinn verfehlt, wenn es nicht auch spirituelle Erlebnisse in Gemeinschaft gäbe.
"Die Leute brauchen so etwas"
Einige Meter vom IHK-Gebäude entfernt ist der Andrang so groß, dass Helfer den Zugang beschränken müssen. Die Platzkapazitäten im Mädchengymnasium Sankt Agnes reichen nicht aus. Dort wurde das "Zentrum Bibel und Spiritualität" der Großveranstaltung eingerichtet. Im Treppenhaus geht es zu wie in einem Bienenstock. In ständig wechselnden Schichten enden und beginnen Exerzitien, Tanz- und Meditationskurse, Bibelrunden und Fantasiereisen.
Organisator Daniel Pomm ist mit der Resonanz überaus zufrieden. "Es tut so gut, das nach zwei Jahren Corona-Pandemie zu erleben", sagt der Diakon aus Erfurt, der sich im Katholischen Bibelwerk engagiert. Ihm und seinen Mitstreitern sei es gelungen, das Gymnasium zur spirituellen Hauptattraktion des Katholikentags machen. Als Bibliologe freue er sich besonders, dass die Auseinandersetzung mit der Heiligen Schrift großen Raum einnehme. "Die Leute brauchen so etwas", ist Pomm überzeugt. So sei etwa ein Kurs über die unterschiedlichen Akzente verschiedener Bibelübersetzungen "sehr, sehr gut besucht" gewesen.
Einziger Wermutstropfen ist aus Sicht des Diakons die fehlende Gelegenheit, mit den Gästen so richtig ins Gespräch zu kommen. "Die Fluktuation ist zu hoch", sagt er. Um möglichst vielen Menschen die Teilnahme zu ermöglichen, müssten die Räume nach Ende der einzelnen Workshops zügig geräumt werden.
Miriam und Patrick Bauer, beide 27, zählen zu jenen, die einen Platz ergattern konnten. Beseelten Blickes verlässt das Ehepaar aus der Nähe von Memmingen das Gymnasium. Beide sind in unterschiedlichen Funktionen in der evangelischen Kirche aktiv. "Trotzdem kommen wir gerne zum Katholikentag", betont der Gatte, ein Pfarrer in Ausbildung bei der Evangelischen Landeskirche Württemberg. Aus der besuchten Bibelrunde nehme er wertvolle Impulse für den Berufsalltag mit.
Ähnlich wie viele Experten sind die Bauers der Meinung, dass trotz hoher Kirchenaustrittszahlen ein großes Bedürfnis nach Spiritualität in der Gesellschaft herrsche. Aufgabe der beiden großen Kirchen sei es, den Menschen neue geistliche Nahrung zu geben. Wenn das gelinge, müsse man sich um die kirchliche Zukunft keine Sorgen machen.
kna