Der Bischof von Limburg Georg Bätzing
"Und Friede auf Erden"
Foto: kna / Julia Steinbrecht
Viel zu spät hat der politisch wenig interessierte Lehrer die Brisanz der Situation erkannt. Die Schule, in der seine berufstätige Schwester ihren 13-jährigen Sohn Sascha untergebracht hat, liegt am anderen Ende der Kleinstadt. Sie ist unter Beschuss geraten. Das zivile Leben ist nach wochenlangen Kämpfen zwischen ukrainischen Truppen und den von verdeckten russischen Streitkräften unterstützten Separatisten zusammengebrochen. Es dauert einen ganzen Tag, um durch die Stadt zu kommen. Aber er macht sich auf den Weg, um den Neffen aus dem Internat herauszuholen. Eine atemlose Geschichte entwickelt sich, denn die beiden geraten auf dem Heimweg unmittelbar in die Nähe der Kampfhandlungen. Maschinengewehre rattern, Minen explodieren, Menschen stolpern verstört durch die Straßen.
Worte und Bilder der Zuversicht
In seinem ersten Kriegsroman schildert der ukrainische Schriftsteller Serhij Zhadan die Situation in der Anfang 2015 umkämpften Stadt Debalzewe im Donbass mit einer Mischung aus Angst, Selbstbehauptung und Verantwortungsgefühl. Und irgendwie endet der Roman „Internat“ (2017) sogar mit einem verhaltenen Ausblick der Hoffnung. „Jeder plant, am Leben zu bleiben, zurückzukehren. Alle wollen zurück nach Hause, alle mögen das Gefühl heimzukehren“, denkt Sascha, der Neffe, ganz am Schluss – und er hat recht. „Wie aber bleibt man denn am Leben?“, schreibe ich ihm nachts. Er antwortet mit einer Sprachnachricht, doch er antwortet nicht wirklich. Er sagt: „Mit den Sobraky fahren wir morgen früh nach Dnipro.“ Macht eine Pause, dann: „Wir wollen ein neues Lied aufnehmen.“ Vielleicht ist ja genau das die Antwort auf die Lebens-Frage.
Fast möchte ich sagen, der Roman endet mit einem weihnachtlichen Motiv. Denn mich erinnert dieser Schluss an die Bilder der Zuversicht, die während der Weihnachtsgottesdienste aufgerufen werden.
Es ist kein Zufall, dass der alttestamentliche Prophet Jesaja die Gottesdienste an Weihnachten prägt. Denn schon sein Name ist Programm: „Der Herr rettet“. In der Heiligen Nacht heißt es: „Das Volk, das in der Finsternis ging, sah ein helles Licht …. Denn sein drückendes Joch und den Stab auf seiner Schulter, den Stock seines Antreibers zerbrachst du …. Jeder Stiefel, der dröhnend daherstampft, jeder Mantel, im Blut gewälzt, wird verbrannt, wird ein Fraß des Feuers. Denn ein Kind wurde uns geboren, ein Sohn wurde uns geschenkt. Die Herrschaft wurde auf seine Schulter gelegt.“ (Jesaja 9,1.3-5)
Das ist die unmissverständliche Ansage göttlicher Hilfe, die der Not der Unterdrückung ein Ende macht.
Oder am Weihnachtsmorgen: „Wie willkommen sind auf den Bergen die Schritte des Freudenboten, der Frieden ankün-digt …. Brecht in Jubel aus, jauchzt zusammen, ihr Trümmer Jerusalems! Denn der Herr hat sein Volk getröstet, er hat Jerusalem erlöst.“ (Jesaja 52,7.9)
Wie mag beides heute klingen in den Ohren der Menschen in der Ukraine – oder im Heiligen Land, wo der Terrorangriff der Hamas im Oktober erneut unsägliches Leid über die Menschen in Israel und im Gaza-Streifen brachte. Wird es eine Zukunft in Frieden geben?
Momente des Aufatmens
Ich finde, die Laudatorin hatte recht mit dem, was sie bei der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels 2022 an Serhij Zhadan in der Frankfurter Paulskirche über die Wirkung von Dichtung ausführte: Diese sei gewiss kein Mittel gegen die Eskalation von Gewalt. Sie sei weder für moralischen Beistand zuständig, noch tauge sie als Friedensbringer. Was sie aber leisten könne, seien kleine Momente der Reparatur, indem sie – und sei es nur einen einzigen Menschen – aufatmen lässt; weil sich jemand in einem fremden Gesicht wiedererkennt oder in einem Satz, der den eigenen Abgrund für einen Augenblick zum Verschwinden bringt (vergleiche Sandra Kegel, in: FAZ vom 24. Oktober 2022).
Ja, das erhoffe ich mir auch zu Weihnachten: Dass die von Krieg, Kälte und Dunkelheit geplagten Menschen in der Ukraine, in Israel und im Gazastreifen, in Äthiopien, in Myanmar und überall auf der Welt für einen Augenblick aufatmen können. Dass die Millionen, die aus ihrer Heimat geflüchtet sind, wenigstens in menschenwürdigen Verhältnissen leben können und Respekt und Zuneigung erfahren. Dass alle, die nicht wissen, wie sie angesichts der immensen Preissteigerungen ihr Auskommen sichern sollen, genug Unterstützung und viel menschliche Solidarität bekommen. Und all die Geschichten, Lieder und lichtvollen Symbole dieser festlichen Tage mögen ihre Wirkung nicht verfehlen und Zuversicht vermitteln – allen, die sie auf sich wirken lassen, und unabhängig davon, ob sie gläubig sind oder nicht. Weihnachten ist für alle da!
Gott stellt die Weichen neu
Freilich stellt es Christinnen und Christen in eine besondere Verantwortung. Denn die Geburt des Erlösers ist für uns der Beginn einer neuen Zeit. An Weihnachten hat Gott sehr konkret in die Geschicke der Welt eingegriffen und die Weichen gestellt für eine Menschheit, die neue Wege beschreitet in der Spur des Mannes aus Nazaret. Für mich bedeutet das: nicht resignieren vor der „alten Welt“ und ihrem beklagenswerten Zustand, sondern jetzt schon nach Zeichen der „neuen Welt“ Ausschau halten und sie stark machen. Mitten in der Finsternis dem Licht folgen und es verbreiten.
Das Ja zu Jesus kann nicht folgenlos bleiben. Im Blick auf die zerstörerische Macht von Terror und Krieg heißt das für mich: Jetzt muss die Saat des Friedens ausgebracht werden. Denn wie soll es sonst weitergehen? Das entsetzliche Leid sät Hass in die Herzen von Menschen. Und der wird vermutlich über Generationen hinweg wieder und wieder Gewalt provozieren. So lehrt es die Erfahrung unter den Gesetzmäßigkeiten der „alten Welt“. Frieden muss wachsen, er entsteht nur in den seltensten Fällen von außen. Es braucht diejenigen, die diese Saat ausbringen, mit Diplomatie und friedensstiftenden Gesprächen und Projekten. Das kann im Kleinen beginnen, nicht nur auf der großen Bühne der Weltpolitik.
Jeder von uns kann auf andere zugehen – auch auf diejenigen, die sich allzu leicht entflammen lassen von Kriegsrhetorik und Hass – und mit ihnen Perspektiven entwickeln, die mehr zum Licht, mehr zum Frieden und Aufbau beisteuern als zu Dunkelheit, Krieg und Zerstörung. Darin sehe ich einen konkreten Dienst von Christinnen und Christen an der Gottesherrschaft, die seit der Geburt Jesu mitten unter uns wächst.
Der Theologe und Journalist Jochen Klepper (1903 bis 1942) hat es in einem Hoffnungslied aus finsterer Zeit so ins Wort gebracht: „Noch manche Nacht wird fallen auf Menschenleid und -schuld. Doch wandert nun mit allen der Stern der Gotteshuld. Beglänzt von seinem Lichte, hält euch kein Dunkel mehr; von Gottes Angesichte kam euch die Rettung her.“
Ihnen allen wünsche ich von Herzen Licht und Zuversicht und ein friedvolles Weihnachtsfest.
Georg Bätzing,
Bischof von Limburg