Anstoss 25/2018
Vergeben – wie schwer kann das sein
Manchmal gibt es Begegnungen, die mich als Christin radikal anfragen. Neulich hatte ich so eine Begegnung. Da stand ein Artikel in der Zeitung, der von einem Schauprozess in der DDR im Jahr 1960 erzählt.
Darin ging es um einen jungen Mann und Familienvater, der infolge dieses Schauprozesses keine 30 Jahre alt wurde. Ein Vierteljahr vor Prozessbeginn steht der Ausgang eigentlich schon fest, denn in dem „Vorschlag für die Durchführung eines Prozesses“ steht auch: „Das Verfahren ist geeignet, aus erzieherischen Gründen gegen S. die Todesstrafe zu verhängen.“ Dass dieser junge Mann vor Gericht stand, ist auch der Tatsache geschuldet, dass er von seinem vermeintlich besten Freund in eine Falle gelockt und dann festgenommen wurde. Jedes Flehen um Gnade ist umsonst.
Erst nach der Wende erhält seine Familie sein letztes Lebenszeichen: einen Brief, den er seinen Angehörigen wenige Minuten vor seiner Hinrichtung schreibt und der mit dem Satz endet: „Die Größe eines Menschen liegt in der Verzeihung, die er spenden kann, und Verzeihung ist das Schönste, was das Menschenherz uns gibt.“