Erfahrungen von Exerzitienbegleiterin Martina Patenge

Warum Spiritualität einen Ort braucht

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Martina Patenge hat bis vergangenen Monat als Exerzitienbegleiterin im Bistum Mainz gearbeitet. Jetzt ist das „Zentrum für Glaubensvertiefung und Spiritualität“ auf dem Binger Rochusberg geschlossen. Geschichte. Das Bistum stellt seine Arbeit in der geistlichen Begleitung neu auf. Die Kirchenzeitung hat Martina Patenge gefragt, was der Auszug aus einem spirituellen Zentrum bedeutet – für die Begleiterin, für die Suchenden? Braucht Spiritualität einen festen Ort? Sie sagt: „Ja, es braucht sichere Orte und geschützte Räume für geistliche Erfahrungen. Damit Glaube wachsen kann. Der wichtigste spirituelle Ort ist allerdings kein Haus und kein Kloster. Sondern das eigene Herz!“


Es braucht Orte, wo innere Einkehr möglich ist. Martina Patenge: „Orte können ein Exerzitienhaus oder ein Kloster sein, ein besonderer Baum, das Meer, eine bestimmte Gegend im Gebirge. Vielleicht ist es aber auch ein Küchentisch, an dem ein wichtiges Gespräch stattfand.“


Kein Rollkoffer dröhnt noch auf dem kleinen Fußweg zum Eingang, kein Gast ist mehr auf dem Weg ins Kardinal-Volk-Haus: Das Exerzitienhaus des Bistums Mainz, auch Heimat des „Zentrums für Glaubensvertiefung und Spiritualität“, ist geschlossen. Glaubensvertiefung und Spiritualität wird an anderen Orten und auf andere Weise fortgesetzt werden. Aber erst einmal verlieren viele Menschen damit die ihnen vertraute spirituelle Heimat. 
Das Kardinal-Volk-Haus in Bingen war einer der Orte, in dem Gäste Ruhe finden konnten und geistliche Heimat, Zeit für Gott und für sich selbst. Und sie fanden dort die nötige fachliche Unterstützung, damit ihr Glauben tiefer und fester werden konnte. Die Nachfrage zu entsprechenden Angeboten war durchgehend hoch. Vertiefung des Glaubens geschieht natürlich nicht nur auf dem Rochusberg. Sondern an vielen Orten, die sehr verschieden sein können. Solche Angebote werden sehr gesucht. 
Was genau suchen Glaubende in solchen Häusern? Was bedeutet Glaubensvertiefung und Spiritualität? Braucht es dafür besondere Orte? 

Spiritualität hat viele Farben

„Spiritualität“ ist heute in jeder Bahnhofsbuchhandlung zu finden, in Form ungezählter Bücher. Die wenigsten von ihnen haben christlichen Hintergrund. Was also meint „spirituell“? Und was sagen Menschen über sich aus, die sich als spirituell bezeichnen?

Martina Patenge
Martina Patenge ist Exerzitienbegleiterin
und Pastoralreferentin und lebt in Mainz. Foto: Ruth Lehnen

Spiritualität kommt von dem lateinischen Wort „spiritus“, Geist. Der Begriff Spiritualität beschreibt die Suche nach einer geistigen Wirklichkeit über oder hinter den Dingen. Es geht um eine innere Haltung, die das Leben deutlich prägt. Der Begriff ist wie ein Container, in den vieles hineinpasst. Je nach Glaubens- und Denkwelten ist er anders gefüllt: Es gibt christliche, jüdische und muslimische Spiritualität, buddhistische und hinduistische, die von Naturreligionen bestimmte Spiritualität, esoterische Spiritualität, sowie die Spiritualität völlig unreligiöser Menschen und anderes mehr. 
Es ist gut, ihnen allen ihren Platz zu lassen! Und spirituelle Suche nicht zu bewerten. Denn spirituell suchende Menschen verbindet etwas Gemeinsames: Sie suchen eine geistige Wirklichkeit hinter den Dingen, auch jenseits von allzu-Irdischem. Eine Wirklichkeit, die nicht nur auf dem beruht, was wir sehen und anfassen, kaufen und nutzen können, sondern die diese Welt übersteigt. Dies verändert alle Menschen, die auf der spirituellen Suche sind – und es verändert sie eher zum Guten. 

Spiritualität – christlich:

Für die christliche Spiritualität gelten mehrere Bedingungen: 
Sie beruht auf dem Glauben an den dreieinen Gott: Ausgangspunkt ist Gott, den wir in Jesus Christus erfahren durch die Geistkraft Gottes. 
Christliche Spiritualität gründet immer auf der Bibel als unserem Heiligen Buch. Daran muss sie sich orientieren und auch messen lassen. 
Christliche Spiritualität drückt sich aus in der lebendigen Beziehung zu Jesus Christus. Aus dieser Beziehung entwickelt sich idealerweise eine christliche Haltung zur Welt und Umwelt. Regeln und Normen unterstützen nur, was sich in der Beziehung, in der Freundschaft mit Jesus Christus längst entwickelt hat. 
Christliche Spiritualität hat mit Erfahrung zu tun, mit Spüren und inneren Wahrnehmungen, mit Erfüllung, der Erfahrung von Heilerwerden und intensiverem Leben. Und sie ist auf die Zukunft gerichtet. Karl Rahner sagte dazu: „Der Fromme von morgen wird ein ,Mystiker‘ sein, einer der etwas ,erfahren‘ hat, oder er wird nicht mehr sein.“ 
Christliche Spiritualität ist nie „fertig“. Immer ist da die Sehnsucht nach Gott, nach Gemeinschaft mit Jesus Christus, nach der Kraft des Heiligen Geistes, nach „mehr“. Spiritualität bleibt ein Übungsweg. Das hat schon Martin Luther beschrieben: „Das christliche Leben ist nicht Frommsein, sondern ein Frommwerden ..., nicht Sein, sondern Werden, nicht Ruhe, sondern eine Übung“. Spiritualität will wachsen und reifen. Ein Leben lang. 
Wer sich als Christin und Christ um ein spirituelles Leben müht, wird durch die immer enger werdende Freundschaft mit Jesus Christus allmählich heiler und ganzheitlicher. Darf immer mehr „der Mensch werden, den Gott sich gedacht hat“. 
Christliche Spiritualität ist kein Selbstzweck. Es geht nicht um Selbst-optimierung. Beglückende Glaubenserfahrungen dürfen sein, sind aber nicht das Ziel. Ziel ist die Nachfolge Christi! Christliche Spiritualität entwickelt sich sehr individuell – und ist erst dann wirklich reif, wenn sie auch die Welt und die Umwelt, die Mitmenschen, „den Nächsten“ im Blick hat. 
Aus all dem folgt: Ein spiritueller Mensch gibt sich nicht mit äußeren Formen des religiösen Lebens zufrieden, sondern lebt aus einer inneren Haltung, aus der Erfahrung des Göttlichen. Diese Erfahrung stärkt und ermutigt. Sie weckt eine Sehnsucht nach „mehr“. Und sie macht lebendig: „Die Freude an Gott ist unsere Kraft“ (Nehemia 8,10) 

Sehnsucht, Übung und Treue

Spiritualität ist die Weise, wie ein glaubender Mensch lebt! Was ihn oder sie im Innersten bewegt und hält. Aus welcher Haltung heraus Entscheidungen getroffen werden. Aus welcher Kraft die Lebenswege beschritten werden. Als „spiritueller Mensch“ wird niemand geboren. Alles beginnt mit dem Glauben. Dieser Glaube wächst selten von selbst, sondern muss gesät werden. Jahrhunderte lang geschah die religiöse Sozialisation von Kindheit an eher „nebenbei“ im Elternhaus, durch das allgemeine Umfeld. Überall wurde ganz selbstverständlich Glaube gesät. 
Heute finden Menschen häufig auf anderen Wegen zum Glauben: Sie entdecken, dass ihnen etwas fehlt oder dass sie ein „mehr“ suchen. Ihre Sehnsucht wird geweckt in der Jugendarbeit, bei einem Besuch in Taizé oder an einem anderen spirituellen Ort, vor allem aber durch Begegnungen mit beeindruckenden gläubigen Menschen, durch Bücher und Vorträge. Auch bei Konzerten mit geistlicher Musik der verschiedensten Spielarten können Funken überspringen. Wie auch immer Glaube zu wachsen begonnen hat: Am Anfang steht meistens die Sehnsucht nach einem tieferen Sinn des Lebens, nach einer größeren Kraft, die das Dasein übersteigt – nach Gott. Und wer davon etwas entdecken durfte, ist erst einmal glücklich: die erste Liebe. 
Diese Anfangs-Begeisterung für Gott, Kirche, Liturgie und andere gläubige Menschen ist gut und wichtig. Sie gibt den nötigen Schwung, um ins Glaubensleben hineinzufinden. Allerdings würde Begeisterung alleine auf Dauer nicht weit tragen. Das ist wie in der Liebe zu einem Menschen. Verliebtsein ist wunderschön, aber für ein langes gemeinsames Leben reichen die-se verrückten Gefühle nicht. Sie müssen sich wandeln und entwickeln zu einer tragfähigen Liebe, die auch Stürmen standhält. So auch im Glauben: Der Anfangsglauben muss wachsen und reifen, damit er wirklich zu einer belastbaren Kraft wird. Für ein langes gemeinsames Leben mit Gott. Der Glaube muss aus den Kinderschuhen herauswachsen. Damit er zu einer wirklichen Haltung werden kann, aus der heraus ein Mensch lebt. Eben zu Spiritualität. 
Es gibt bewährte Rezepte, mit denen der Glaube weiterwachsen kann. „Üben“ ist das wichtigste. Und „Treue“: Im täglichen Gebet, das sich Zeit nimmt, auf Gott zu lauschen, in Gottesdienstbesuchen, Bibelkreisen, Anregungen in der Kirchengemeinde, durch Lektüre und entsprechende Apps im Internet, auch durch Exerzitien im Alltag. Es gibt viele Anregungen und viele Alltags-Übungen, die dabei sehr weiterhelfen. Weiterhelfen, um „dranzubleiben“ an einem lebendigen Glauben, der sich weiterentwickelt. 

Glauben teilen

Glauben wächst auch durch Sprechen und Teilen. Und dazu gibt es Einkehrtage und Oasentage. Vorträge und Glaubensgespräche. Erfüllende Gottesdienste. Pilgerwege und Wallfahrten. Und Geistliche Begleitung. „Wo kann man schon mal so intensiv über den eigenen Glauben sprechen?“ – ist die Sehnsucht und Erfahrung vieler. Es tut so gut, über den Glauben zu reden, wenn er das Herz erfüllt: Wie schön, andere glauben auch! Andere haben ähnliche Fragen. Andere sind auch auf der Suche. So lernen wir voneinander, entwickeln uns weiter und stärken uns gegenseitig für den Alltag. 
Von Beginn an lebt unser Glaube vom Weitererzählen. Die ersten Jüngerinnen und Jünger haben nur mündlich berichtet, was sie mit Jesus erlebt haben. Schriftliche Zeugnisse kamen erst später. Heute finden solche Gespräche weniger am Lagerfeuer statt als in Häusern. Sie entstehen oft nicht mehr von selbst, sondern müssen angeregt werden. Es braucht „Gelegenheiten“. Impulse. Und Orte. Und daraus entstehen nicht selten innere Erfahrungen mit Gott und Jesus Christus. So wächst die Spiritualität. 

Dem Himmel näher

Glaube wächst aber auch durch Schweigen – bei Stillen Tagen, Meditation und Exerzitien. Glaube wächst durch das Hören nach innen, durch Lauschen auf Gott, indem man einfach ganz bewusst „da ist“ und sich öffnet für Gott. Dann entwickelt sich die eigene Spiritualität sogar im Schlaf weiter. In den Träumen und den vielen Gedanken in der Stille. 
Damit aus dem Schweigen mit Gott etwas Gutes wachsen kann, ist gute fachliche Begleitung hilfreich. Dafür sind Exerzitienleiter*innen und Geistliche Begleiter*innen ausgebildet. Und es braucht spezielle Orte, in denen solche innere Einkehr möglich ist. Da, an diesem Ort, können die Gäste auf besondere Weise von Gott, Jesus Christus und der Geistkraft „etwas erfahren“, wie Karl Rahner es ausdrückte. Diese Orte können ein Exerzitienhaus oder ein Kloster sein, ein besonderer Baum, das Meer, eine bestimmte Gegend im Gebirge. Vielleicht ist es aber auch ein Küchentisch, an dem ein wichtiges Gespräch stattfand. Oder eine Kirche. Entscheidend ist, dass der Ort mit einer spirituellen Erfahrung verbunden ist: eine tiefe Einsicht, Momente voller Glück und Klarheit, auch Gotteserfahrungen. Solche Erfahrungen machen aus einem Ort einen Kraftort, an den man immer gerne wieder zurückkehrt, um an das Erleben anzuknüpfen. Manche sagen: „Hier bin ich dem Himmel näher“. Sie drücken damit aus, wie dicht sie an einem bestimmten Ort sich mit Gott verbunden fühlen und etwas von seiner Größe erahnen dürfen. Der Baum, das Meer, der Küchentisch selbst sind nicht heilig und nicht als solche „spirituell“, aber dort hat die spirituelle Erfahrung stattgefunden. 

Mein spiritueller Ort

Bedeutende emotionale Erfahrungen und innere Wachstumsschritte verbinden wir gerne mit dem Ort, an dem sie stattgefunden haben. Und mit den Menschen, die dabei hilfreich waren. Aus diesem Grund sind beim Abschied vom Kardinal-Volk-Haus zahlreiche Tränen geflossen. Dieses Haus war für viele Gäste zum spirituellen Ort geworden, zu einer geistlichen Heimat, in der sie im Glauben und damit für ihr Leben wachsen durften. Da tut der Abschied sehr weh. 
„Wir sollen heiter Raum um Raum durchschreiten, an keinem wie an einer Heimat hängen“ formulierte Hermann Hesse in seinem berühmten Gedicht „Stufen“. Recht hat er! Aber das ist leichter gesagt als getan. Und da kann es schon eine Weile dauern, bis jemand sich von der bisherigen spirituellen Heimat verabschiedet hat und eine neue suchen kann. 

„Zieh fort aus deinem Land“

Vielleicht hilft da ein Blick auf die Anfänge der Bibel. Da geht es schon gleich los mit den Abschieden: Das erste Menschenpaar muss das Paradies verlassen. Abraham zieht fort aus seinem Land. Das Volk Israel wird durch Mose aus Ägypten herausgeführt. Und erst Jesus: Er ist „unterwegs“ geboren und wird schon als Baby zum Flüchtling. Später ist er Wanderprediger mit dem Motto: „Die Füchse haben ihre Höhlen und die Vögel des Himmels Nester. Der Menschensohn aber hat keinen Ort, wo er sein Haupt hinlegen kann.“ (Matthäus 8,20) Er lebt, was er predigt: Immer wieder macht er darauf aufmerksam, dass wir Menschen uns nicht so sehr an „Dinge“ binden sollen. Weil sie uns sonst binden. 
Woher kommt der Mut, sich immer wieder neu auf die Suche zu machen? Jesus lebt die Antwort vor: Gott geht alle Wege mit! Die geraden und die krummen, die schweren und die schönen, und auch alle unbekannten. Und so ist jeder Abschied von einer Lebensphase oder von einem geliebten Ort schwer und manchmal tränenreich. Wie weh tut es, den geliebten und wichtigen spirituellen Ort zu verlieren. Das fühlt sich erst mal an wie „ein Ende“. Es ist jedoch auch wieder die Chance zu etwas Neuem. Es wird weitergehen. An anderem Ort. Mit anderen Menschen. Weil Gott immer weiter mitgeht. 
Im Bistum Mainz wird es vor allem auf dem Jakobsberg und auch im Kloster Engelthal mit Angeboten des neuen „Instituts für Spiritualität im Bistum Mainz“ weitergehen. Ja, es braucht Häuser und Klöster, in denen Einkehr und Exerzitien möglich sind. Es braucht die ausgebildeten Begleiterinnen und Begleiter. Es braucht sichere Orte und geschützte Räume für geistliche Erfahrungen. Damit Glaube wachsen kann. 
Der wichtigste spirituelle Ort ist allerdings kein Haus und kein Kloster. Sondern das eigene Herz!

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