Teil 4 unserer Fastenserie zu Tugenden

Was ist gerecht?

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Mit welchen Leitlinien kommen wir weiter gut durch die Corona-Krise? Welche Maßstäbe geben uns Orientierung für ein anständiges Leben? Die klassischen christlichen Tugenden können Wegweiser sein. Die Fastenserie stellt sie vor.

Kinder aus einem Slum in Neu-Delhi haben ihr Klassenzimmer unter einer Brücke.
Kinder aus einem Slum in Neu-Delhi haben ihr Klassenzimmer unter einer Brücke. Bildungsgerechtigkeit sieht anders aus.

Von Ulrich Waschki 

Eine bittere Erkenntnis gleich zu Beginn: Echte Gerechtigkeit wird es im menschlichen Leben niemals geben. Denn: Was ist gerecht? Dass alle Menschen die gleiche Menge Besitz haben? Oder die gleichen Chancen? Dass alle nach ihren jeweiligen Bedürfnissen bemessen werden? Oder nach ihrer Leistung – wer viel leistet, bekommt auch viel?

Chancengleichheit, Leistungsgerechtigkeit, Verteilungsgerechtigkeit – die Theorie kennt viele Spielarten. Daher sorgt die konkrete Frage einer gerechten Gestaltung einer Gesellschaft stets für Debatten. Ist es gerecht, einem Großverdiener Geld abzunehmen, damit derjenige, der aus welchen Gründen auch immer nicht arbeitet, mehr Geld zum Leben hat? Der reiche Erbe, der von seinem Familienvermögen etwas abgeben muss, wird das wahrscheinlich als ungerecht empfinden. 

Totale Gerechtigkeit bleibt ein ideal

Was in Deutschland als angemessen, sozial und gerecht gilt – ein Spitzensteuersatz von über 40 Prozent, ein solidarisch finanziertes Sozialversicherungssystem –, ist in anderen Ländern fast schon Sozialismus. Der war im Übrigen ja ein Versuch, alle Menschen gleichzumachen, sollte also zu einer radikal gerechten Gesellschaft führen. Solche Versuche sind krachend und oft blutig gescheitert.

Mehr Gerechtigkeit zu schaffen, ist eine Abwägung zwischen verschiedenen Polen: Wem nimmt man etwas weg, wem gibt man es? Totale Gerechtigkeit bleibt für Menschen ein unerreichbares Ideal.

Natürlich gibt es himmelschreiende Ungerechtigkeiten – wenn Despoten Kriege führen, Herrschercliquen ihr Volk ausplündern, die Ressourcen ihrer Länder nur zum eigenen Wohlstand nutzen oder internationale Konzerne ohne Rücksicht auf Bevölkerung und Umwelt arme Länder ausbeuten. 

Klar ist: Gerechtigkeit schafft Frieden. International, aber auch national oder in der Familie. Haben Menschen das Gefühl, dass staatliche Regelungen ungerecht sind, verlieren diese an Legitimation und werden unterlaufen. Auch deshalb sind Christen berufen, sich für Gerechtigkeit einzusetzen.

„Selig, die hungern und dürsten nach der Gerechtigkeit; denn sie werden gesättigt werden. Selig, die verfolgt werden um der Gerechtigkeit willen; denn ihnen gehört das Himmelreich“, sagt Jesus in der Bergpredigt. Nicht umsonst setzen sich die christlichen Hilfswerke für die Armen und Ausgebeuteten ein, kämpfen Kolpinger und KABler für soziale Gerechtigkeit. Zu den großen Denkern der Sozialreformen in Deutschland im 19. Jahrhundert gehörten maßgeblich auch Christen. 

Das Streben nach Gerechtigkeit hilft, das eigene Ego zu überwinden. Etwa in der derzeitigen Pandemie. Jede und jeder leidet unter dem Lockdown und hofft auf Erleichterungen. Auf die Impfung, möglichst sofort. Aber sollte nicht der alte Mann von nebenan die Impfung früher bekommen? Geht es nicht den Kindern viel schlechter als vielen Erwachsenen und ist deshalb die Öffnung der Schulen nicht viel wichtiger als das Shoppingerlebnis oder der nette Abend mit dem befreundeten Paar? 

Überhaupt das Impfen: Hätte unsere Regierung nicht einfach das Portemonnaie zücken sollen und mit maximalem Geldeinsatz Impfstoff kaufen sollen? Wir können es uns doch leisten. Aber es ist eine Frage der Gerechtigkeit auch innerhalb Europas, erst recht innerhalb der ganzen Welt, dass das – gewollt oder ungewollt – nicht geschehen ist. 

Wie kaum eine andere christliche Tugend ist die Gerechtigkeit mit den anderen Tugenden verbunden. Mit dem Maßhalten: Radikaler Gerechtigkeitsfuror führt zu Gewalt und Ungerechtigkeit, denken wir nur an den eingangs erwähnten Sozialismus. Mit der Klugheit: Bei jedem Schritt zu mehr Gerechtigkeit gilt es mögliche negative Folgen zu bedenken. Mit der Tapferkeit: Gegen Ungerechtigkeit zu kämpfen, kann Mut erfordern. Viele Menschen haben diesen Kampf mit dem Leben bezahlt. 

Anderen gönnen, auch wenn es nicht gerecht ist

Vor allem aber ist die Gerechtigkeit mit der Liebe verbunden. Nächstenliebe und Barmherzigkeit ergänzen die Gerechtigkeit. Ich gönne meinem Nächsten, was er braucht, auch wenn das vielleicht nicht gerecht ist. Auf die Frage, welches ihrer Kinder sie am meisten lieben würden, antworteten Eltern einer ganzen Kinderschar: „Das, welches es im Moment am meisten braucht.“ Ist das gerecht? Vielleicht nicht, mögen die Geschwister einwenden, die hoffentlich mit liebendem Verständnis auf die kluge Antwort ihrer Eltern reagieren.

Eng verbunden ist die Gerechtigkeit auch mit der Hoffnung. Mit der Hoffnung, dass es am Ende meines Lebens und am Ende der Zeiten göttliche Gerechtigkeit geben wird. Dass die ungerechten Gewinner dieses Lebens von Gott zur Rechenschaft gezogen werden.