Stephanie Rieth vom Bistum Mainz erläutert die Abläufe

Was passiert nach Missbrauchsvorwürfen?

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Missbrauchsvergehen
Nachweis

Foto: picture alliance / Frank May 

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Bei Missbrauchsvergehen ist das kirchliche Recht weiter gefasst als das staatliche, erklärt Stephanie Rieth. „Das kirchliche Recht befasst sich explizit damit, dass die Kirche vor allem auch mit vulnerablen (verletzlichen) Personen zu tun hat.“

Die Perspektive Missbrauchsbetroffener hat für das Bistum Mainz Vorrang. Im Vergleich zu früheren Bischofszeiten eine neue Haltung. Die Bevollmächtigte des Generalvikars, Stephanie Rieth, spricht über die Regeln, die daraus folgen. Was passiert nach Vorwürfen? Rieth: "Eher lassen wir uns Übereifer vorwerfen als das Gegenteil." Von Anja Weiffen


Gemeinden sind schockiert, wenn plötzlich ein Pfarrer oder Kirchenmitarbeiter vom Dienst freigestellt wird. Wenn plötzlich Missbrauchsvorwürfe im Raum stehen. Die im März vorgestellte Studie zu sexueller Gewalt im Bistum Mainz hat gezeigt, ebenso wie Untersuchungen in anderen Diözesen, welche Ausmaße Missbrauch in der Vergangenheit hatte. Aber auch in der Gegenwart muss sich das Bistum damit beschäftigen. Seit April 2022 verantwortet Stephanie Rieth in der Bistumsleitung den Bereich Intervention, Aufarbeitung und Prävention. Im Vergleich zu früheren Bischofszeiten hat sich unter Bischof Peter Kohlgraf die Haltung geändert. Maßgebend ist nun die Betroffenenperspektive. Das hat Folgen für den Umgang mit gemeldeten Hinweisen.

Manchmal solidarisieren sich Gemeindemitglieder mit einem Beschuldigten

Stephanie Rieth
Stephanie Rieth, Bevollmächtigte des Mainzer Generalvikars Udo Markus Bentz, ist in der Mainzer Bistumsleitung verantwortlich für Intervention, Aufarbeitung und Prävention. 

Die Abläufe bei der Meldung eines Falles folgen konsequent klaren Prinzipien, zugleich werfen sie bei Menschen Fragen auf. Manchmal sorgen sie auch für Unverständnis in Gemeinden, in denen sich Gemeindemitglieder spontan mit einem Beschuldigten solidarisieren. So geschehen etwa in Eppertshausen im Fall des ehemaligen Pfarrers. Stephanie Rieth betont: „Die einzelnen Fälle sind sehr komplex, in ihren Sachverhalten und was ihre Rahmenbedingungen betrifft. Es gibt kein Schema nach dem Motto: So läuft ein Fall immer ab. Aber es braucht Standardisierungen, in denen sich unsere Haltungen widerspiegeln.“
Aktuelle oder vergangene Vorfälle können bei den Unabhängigen Ansprechpersonen oder bei der Koordinationsstelle Intervention des Bischöflichen Ordinariats gemeldet werden. Mit anonymen Meldungen kann das Bistum allerdings nicht weiterarbeiten. Darauf wird auch in Dokumenten wie etwa dem Flyer zu den Meldewegen hingewiesen. Doch anonyme Hinweise laufen nicht einfach ins Leere. „Wir versuchen alles, um eine anonyme Meldung auf einen guten  Verfahrensweg zu bringen“, erklärt Stephanie Rieth. Das bedeutet etwa, einen Betroffenen zu ermutigen, sich mit Namen bei einer Unabhängigen Ansprechperson zu melden. „Wir sind uns bewusst, dass dies auch mit Ängsten vor einem Verfahren und den damit einhergehenden Herausforderungen und Zumutungen verbunden ist“, sagt sie. Retraumatisierungen können die Folge sein.

Die Zusammenarbeit mit den staatlichen Ermittlungsbehörden

Was geschieht, nachdem Vorkommnisse gemeldet wurden? Die Koordinationsstelle Intervention, an die auch die Unabhängigen Ansprechpersonen eine Meldung weiterleiten, informiert die Bevollmächtigte des Generalvikars Stephanie Rieth. Nun steht eine „erste Plausibilitätsprüfung“ an. „Das heißt, wir schauen, ob der Vorfall, was Ort und Zeit betrifft, stattgefunden haben kann. Das ist eine niedrigschwellige Prüfung.“ Daher sei es wichtig, einen Sachverhalt so präzise wie möglich aufzunehmen. Für diese Entscheidung holt sich Rieth zudem externe Expertise aus dem Beraterstab und bei internen Fachabteilungen.
Ist die Meldung nach Meinung der Verantwortlichen plausibel, wird sofort über unverzüglich notwendige Maßnahmen entschieden, „wenn Gefahr im Verzug ist“, erklärt Rieth. Unter diese Maßnahmen fallen etwa eine Freistellung vom Dienst und das Verbot, sich auf dem Territorium einer Gemeinde aufzuhalten. Mit dieser Entscheidung werden Informationen praktisch zeitgleich an die staatlichen Ermittlungsbehörden gegeben sowie eine kirchliche (Vor-)Untersuchung eingeleitet. „Diese ersten Schritte passieren alle in großer zeitlicher Nähe“, sagt die Bevollmächtigte des Generalvikars. Auch mit dem Beschuldigten wird sofort gesprochen, sagt Rieth. „Er wird über die ihn betreffenden Maßnahmen informiert, aber es werden keine Sachverhalte genannt.“ Damit soll vermieden werden, dass ein Beschuldigter Zeugen beeinflusst. „Würden wir den Beschuldigten mit Vorwürfen konfrontieren, kann dies Vereitelung von behördlichen Ermittlungen bedeuten. Hier gilt höchste Sorgfalt“, erläutert Stephanie Rieth. Diese klare Regel sei dennoch ein heikler Punkt. „Denn wir wissen auch um diese unerträgliche Situation für einen Beschuldigten, wenn ihm die Inhalte von Vorwürfen nicht kommuniziert werden.“ Staatliche Ermittlungen können Monate oder auch Jahre dauern, weiß die Bevollmächtigte des Generalvikars. Bei Ermittlungen ist auch die Reihenfolge von Anhörungen relevant, um gesicherte Erkenntnisse zu erhalten. Das gilt auch für spätere kirchenbehördliche Ermittlungen.

Was passiert im Fall von Verjährung?

Nach Sofortmaßnahmen, dem Weiterleiten der Information an staatliche und kirchliche Behörden sowie nach dem Gespräch mit dem Beschuldigten werden weitere Personen informiert. So gibt es eine Rückmeldung an den Betroffenen oder die Betroffene. Auch Vorgesetzte und Präventionsbeauftragte werden eingebunden. „Die Sprachregelung bei der Kommunikation über einen Fall ist mit den staatlichen Behörden abgesprochen“, erläutert Stephanie Rieth, „das garantiert eine gute Zusammenarbeit.“
Ermitteln die staatlichen Behörden in einem Fall nicht weiter, weil ein möglicher Vorfall zum Beispiel verjährt ist, wird von kirchlicher Seite in der Regel das kirchliche (Vor-)Untersuchungsverfahren fortgesetzt. Denn eine Verjährung bedeutet nicht, dass nichts gewesen ist. Aber auch das ist möglich. Rieth: „Das kirchliche Recht ist immer weiter gefasst als das staatliche. Das kirchliche Recht befasst sich explizit damit, dass die Kirche vor allem auch mit vulnerablen Personen zu tun hat und dafür auch moralische Verantwortung trägt.“
Sind staatliche Ermittlungen –  die immer Vorrang vor dem kirchlichen Verfahren haben – abgeschlossen, beantragt das Bistum bei den staatlichen Behörden Akteneinsicht. „Wir schauen, welche Fragen beantwortet sind und welche nicht“, erläutert die Bevollmächtigte des Generalvikars. „Der Abschlussbericht der kirchlichen Voruntersuchung wird nach Rom geschickt. Der Vatikan kann weitere Ermittlungen und ein kirchliches Strafverfahren anordnen.“ 
Stephanie Rieth betont, dass die Verfahrensweise, also die Reihenfolge der Maßnahmen und Anhörungen, vor allem dazu dient, von Missbrauch Betroffene vor Manipulation durch einen Beschuldigten zu schützen. „Es geht darum herauszufinden, was wirklich geschehen ist.“ Zugleich gilt für einen Beschuldigten immer bis zum Ende eines Verfahrens die Unschuldsvermutung. Rieth: „Betroffene und Beschuldigte haben das Recht, dass wir unsere Arbeit gründlich machen. Die Öffentlichkeit kann darauf vertrauen, dass wir Vorwürfe ernst nehmen. Ein Ergebnis eines Verfahrens können wir aber zu keinem Zeitpunkt vorwegnehmen, weder die Ergebnisse eines staatlichen noch eines kirchlichen Verfahrens.“

„Eher lassen wir uns Übereifer vorwerfen als das Gegenteil.“ Stephanie Rieth


Aber wird auch bei „Bagatellen“ ermittelt? Zu einer möglichen Kritik, dass diese Verfahrensweise, die auch mit den Richtlinien der Deutschen Bischofskonferenz übereinstimmt, zu rigoros ist, sagt die Bevollmächtigte des Generalvikars: „Wir beziehen in unser Vorgehen Grenzverletzungen mit ein. Eher lassen wir uns Übereifer vorwerfen als das Gegenteil. Ausschlaggebend ist, was Betroffene als Grenzverletzung empfinden und dem gehen wir nach.“ Auch eine Häufung von Grenzverletzungen rechtfertige eine weitergehende Untersuchung. „Grenzverletzungen geben Anlass, besonders hinzuschauen, denn sie haben eine Dynamik, die sich schlimm entwickeln kann.“ Stephanie Rieth hat festgestellt: „Jüngere Menschen sind sensibler geworden gegenüber Grenzverletzungen. Und das finde ich gut.“

So verfährt das Bistum Mainz nach einer Meldung zu sexueller Gewalt:

https://bistummainz.de/organisation/gegen-sexualisierte-gewalt/hilfe-bei-missbrauch/gesetze-formulare-handreichungen-uebersicht

(unter „Hilfe bei Missbrauch“, „Gesetze, Formulare, Handreichungen“)

Unabhängige Ansprechpersonen: 
Ute Leonhardt, Telefon 0176 / 12 53 91 67 E-Mail: ute.leonhardt@missbrauch-melden-mainz.de, Postfach 1421, 55004 Mainz; 
Volker Braun, Telefon 0176 / 12 53 90 21 E-Mail: volker.braun@missbrauch-melden-mainz.de, Postfach 1105, 55264 Nieder-Olm

Anja Weiffen