Interview mit Professor Alexander Merkl

Weltkirchlicher Konsens?

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Seit der ARD-Sendung „Comingout in Church“ haben viele Bischöfe das Outing von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der katholischen Kirche zu ihrer sexuellen Identität begrüßt und zugesichert, dass dies keine arbeitsrechtlichen Konsequenzen haben wird. Für den Hildesheimer Ethiker, Professor Alexander Merkl, ist dies jedoch nur ein erster Schritt auf einem langen Weg.  


Was hat die Bewegung „#OutInChurch“, was haben die Outings innerhalb der Kirche bei Ihnen ausgelöst? Kam das überraschend?

Ich persönlich habe die Initiative und die unmittelbaren kirchlichen Reaktionen mit großem Interesse wahrgenommen und verfolgt. Überraschend war sicherlich die Schlagkraft, mit der die Forderungen erhoben wurden und die Art der Öffentlichkeit. Inhaltlich sind die Forderungen hingegen nicht völlig neu, sondern greifen viele Anliegen auf, die gerade auch im Rahmen des sog. Synodalen Weges und des Synodalforums „Leben in gelingenden Beziehungen“ diskutiert und jüngst zu Papier gebracht wurden. Bemerkenswert war, dass ausdrücklich von queeren Personen in der katholischen Kirche gesprochen wurde. Dadurch sollte ein Bewusstsein dafür geschaffen werden, dass Fragen von Sexualität und Geschlechtsidentität nicht nur in den Kategorien von Hetero- und Homosexualität zu denken sind. Der Fokus der Aktion liegt auch auf trans- und intergeschlechtlichen sowie nicht-binären Menschen.

Seit jeher hat die Kirche jegliche Form von Sexualität außerhalb der Ehe – mit Verweis auf das Alte und das Neue Testament – abgelehnt, homosexuelle Neigungen sogar als abnorm und krank eingestuft. Was hat sich geändert? Warum nun eine Kehrtwendung?

Von einer Kehrtwendung würde ich nicht sprechen. Auslegungen und Gewichtungen, Denkmus­ter und Sprache ändern sich, wie sich schon bei Papst Franziskus in seinem Nachsynodalen Apostolischen Schreiben ‚Amoris laetitia‘ (2016) angedeutet hatte. Dabei ist gewiss richtig, dass zum Beispiel Homosexualität bis ins 20. Jahrhundert kirchlich wie moraltheologisch als Sodomie in Anlehnung an Gen 19 oder himmelschreiende Sünde qualifiziert wurde. Bis in die 1970er-Jahre galt sie übrigens auch in der Psychologie als Störung und sexuelle Abweichung. Solche Formulierungen finden sich im wissenschaftlichen, kirchlichen und päpstlichen Sprechen heute jedoch nicht mehr. Zudem ist auch Sorgfalt verlangt im hermeneutischen Umgang mit biblischen Texten wie Lev 18,22/20,13 oder Röm 1,24-27. Homosexualität als intime Liebesbeziehung von zwei Menschen gleichen Geschlechts war nämlich nicht im Blick dieser einschlägigen Textpassagen.

Vor allem ältere Katholiken sind mit der Erfahrung groß geworden, dass ihr Sexualverhalten streng kontrolliert werden sollte. Sie fragen sich: Wird jetzt möglicherweise eine seit Jahrhunderten gültige Morallehre der Kirche auf den Kopf gestellt?

Man muss hier bei allem Differenzierungsbedarf und allen aktuellen Entwicklungen ganz klar sein. Die Morallehre der katholischen Kirche ist im Kern unverändert. Verantwortete Sexualität hat ihren Ort in der Ehe zwischen Mann und Frau und ist auf Fortpflanzung hin ausgerichtet. Abweichungen hiervon wie künstliche Empfängnisverhütung, Homosexualität oder nichteheliche Sexualität werden moralisch abgelehnt, wobei nach wie vor eine naturrechtliche Begründungsstruktur dominant ist. Gelebte Homosexualität wird nach wie vor als Sünde qualifiziert, wenngleich sich dies im gegenwärtigen kirchlichen Sprechen so kaum noch findet. In aller Deutlichkeit aber wird sich gegen jede Form der Diskriminierung ausgesprochen. Verschiedene lehramtliche Texte und auch der Katechismus der Katholischen Kirche als Kompendium ihrer Glaubens- und Sittenlehre sind hier unmissverständlich. Daher wird sich im Rahmen des Synodalen Weges hierzulande um Änderungen des Katechismus in diesen Fragen bemüht. Aber ich sage nochmals: Das Nachdenken, das Sprechen und die Wahrnehmung hat sich im Bereich der Sexualmoral vielerorts, auch in der wissenschaftlichen Moraltheologie, bisweilen erheblich verändert, nicht aber die gültige kirchliche Morallehre.

Wie behandelt die Moraltheologie als Teildisziplin wissenschaftlicher Theologie heute das Thema?

Die Moraltheologie steht zunächst fest auf dem Fundament der kirchlichen Morallehre. Sie hat hierbei die Lebensbedingungen der Menschen zu reflektieren und kirchliche Lehre auch kritisch daraufhin zu hinterfragen, ob sie noch verständlich gemacht werden kann, ob es begründete Akzeptanzschwierigkeiten gibt. Viele Moraltheologinnen und Moraltheologen betonen daher heute und ermutigt durch Papst Franziskus im Sinne einer „Beziehungs­ethik“, dass wir vor allem auf die Qualität der gelebten Beziehungen, auf die Realisierung von Werten wie Treue und Fürsorge blicken und die individuelle Lebensführung differenziert wahrnehmen und entsprechend unterschiedlich wertschätzen sollten. Eine Fokussierung allein auf den sexuellen Akt und die pauschalisierende Be- beziehungsweise Abwertung ganzer Lebensformen wird dabei kritisch wahrgenommen.

Kirchlichen Mitarbeitern wurden wegen ihres Schwul- oder Lesbischseins von Bistumsleitungen gekündigt, die nun betonen, dass natürlich alle Menschen – auch die mit anderen geschlechtlichen Identitäten – in der Kirche willkommen sind. Ist das Doppelmoral oder eher ein Umdenken?

Man muss bei diesen Diskussionen zunächst immer sehen, dass wir hier in Deutschland eine Debatte führen, die sich im weltkirchlichen Rahmen anders darstellt. Klar ist auch, dass Beschäftigte bei der Kirche mit ihrem Arbeitsvertrag Loyalitätsverpflichtungen eingehen und ihr Leben an der kirchlichen Glaubens- und Sittenlehre auszurichten haben. Dies aber steht und fällt nun nicht mehr mit der gewählten Lebensform oder der sexuellen Orientierung. So zumindest deute ich die jüngsten Stellungnahmen. Im Zentrum stehen eine verantwortliche Lebensführung der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sowie deren Anerkennung der Ziele katholischer Einrichtungen, zu deren Erreichen sie ihren Beitrag leisten wollen. Eine gewisse Spannung zwischen kirchlicher Morallehre und kirchlichem Arbeitsrecht mag nicht völlig aufzulösen sein, aber von einer Doppelmoral würde ich nicht sprechen wollen.

Was heißt, Menschen mit anderen sexuellen Identitäten sind willkommen? Impliziert dies auch, dass diese Identitäten ohne Restriktionen gelebt werden können, dass zum Beispiel gleichgeschlechtliche Paare auch gesegnet werden dürfen?

Man wird sehen, ob und welche weiteren Folgerungen und Konsequenzen aus den gegenwärtigen Entwicklungen gezogen werden, sowohl in Deutschland als auch auf weltkirchlicher Ebene. Die Möglichkeit von Segnungsfeiern aber wurde erst vor Kurzem vonseiten des Vatikans in einer sogenannten „Responsum ad dubium“ in aller Deutlichkeit ausgeschlossen. Darin wird begründet, dass die Kirche nicht die Vollmacht habe, Verbindungen von Personen gleichen Geschlechts zu segnen. Sich willkommen zu fühlen, hängt aber doch auch ganz wesentlich davon ab, wie man auf einen Menschen zugeht und mit ihm, nicht nur über ihn spricht, ob man ihn wertschätzt und anerkennt. Hier sind gegenwärtig sehr viele positive Entwicklungen erkennbar.

Welche Rolle bei diesem Umdenken der Kirche spielt die aktuelle Missbrauchsdebatte?

Die anhaltende Missbrauchsdebatte war eine Initialzündung für den Synodalen Weg in Deutschland. Sie war damit mitursächlich dafür, über Veränderungen im Umgang mit Macht in der Kirche, hinsichtlich von Frauen und Ämtern, der priesterlichen Lebensführung oder der kirchlichen Sexualmoral nachzudenken und darüber zu diskutieren. Man muss sich aber zum einen davor hüten, in der Missbrauchsdebatte den einzigen Grund für ein ‚Umdenken‘ zu sehen sowie zum anderen davor, falsche und einfache Kausalitäten zu konstruieren, als wäre beispielsweise der priesterliche Pflichtzölibat Grund für die vielen Missbrauchsfälle gewesen. Es gilt hier vor allem systemische und strukturelle Gründe zu beleuchten.

Ihre Einschätzung: Wird sich die katholische Sexualmoral in den kommenden Jahren verändern?

Veränderungen in der Kirche erfolgen nicht abrupt, sind vielmehr das Ergebnis längerer Prozesse. Ein gutes Beispiel hierfür ist die gewandelte Einstellung zur Todesstrafe. Diese war Anfang der 1990er-Jahre im Katechismus noch als angemessene Antwort auf die Schwere einiger Verbrechen erachtet worden. Durch den Einsatz von Papst Franziskus wurde die Todesstrafe im Jahr 2018 als moralisch unzulässig bestimmt. Der Katechismus wurde entsprechend verändert. Veränderungen der Morallehre sind also möglich und auch in Fragen der Sexualmoral ist vieles in Bewegung. Die besondere Bedeutung der Ehe zwischen Mann und Frau als Fundament der Familie wird nach wie vor betont, aber die Wahrnehmung und Anerkennung von Diversität wandelt sich.

Interview: Edmund Deppe

 


Alexander Merkl

Alexander Merkl, Jahrgang 1987, ist seit Mai 2017 Juniorprofessor für Theologische Ethik an der Universität Hildesheim. Zu seinen Arbeits- und Forschungsschwerpunkten gehören:

Friedensethik,
Medizinische Ethik,
Ethik der Tugenden und Laster sowie
Ethische Fragen der Europäischen Union