125 Jahre Bremer Bahnhofsmission

Weniger versorgen, mehr vermitteln

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Leiterin und Stellvertreter der Bahnhofsmission Bremen vor dem Bahnhofsgebäude
Nachweis

Foto: Anja Sabel

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Marieke Grupe und Jens Jürgenbering vor dem Bremer Hauptbahnhof. Die Leiterin der Bahnhofsmission und ihr Stellvertreter haben das Konzept der ökumenischen Einrichtung verändert. Foto: Anja Sabel

Die Bremer Bahnhofsmission gibt es seit 125 Jahren – und ihre Arbeit wird sich auch nicht so schnell erledigen. Es gibt immer Menschen, die Hilfe brauchen. Leiterin Marieke Grupe und ihr Team haben die besucherarme Corona-Zeit genutzt und ein neues Konzept entwickelt.

Marieke Grupe mag die kleinen Überraschungen. Zum Beispiel erinnert sie sich an eine Frau mit einer bipolaren Persönlichkeitsstörung, gefangen im extremen Gefühlsspektrum. Die saß in der Bahnhofsmission, neben sich einen Kasten mit Musikinstrument, und erzählte Geschichten aus ihrem Leben. „Das Gespräch war wirklich anstrengend“, sagt Grupe. Doch plötzlich fragte die Frau: „Darf ich noch etwas auf der Bratsche spielen?“ Zehn Minuten lang füllten wohltönende Klänge den Raum. Marieke Grupe, ihre Kolleginnen und Kollegen, Besucher – alle lauschten der Musik. „Es war total schön und anrührend. Danach hat sie sich verabschiedet.“

Marieke Grupe leitet die Bremer Bahnhofsmission seit gut zwei Jahren. Ein Jobwechsel mitten in der Corona-Pandemie. Kein Problem für die resolute 32-Jährige. Sie nutzte den heruntergefahrenen Betrieb, um gemeinsam mit ihrem Stellvertreter Jens Jürgenbering und den Ehrenamtlichen „alles umzukrempeln“. Das Team überlegte: Was war vor Corona? Und: Wo soll es in Zukunft hingehen? Heraus kam ein neues Konzept.

„Wir haben uns wieder der ursprünglichen Aufgabe der Bahnhofsmission genähert: weg von der reinen Versorger- hin zu einer Vermittlungsstelle“, erklärt die Leiterin. Man will sich mehr auf die Reisenden konzentrieren, im Bahnhof unterwegs sein, Menschen begleiten. Bis zum Jahr 2020 sah das anders aus. Jens Jürgenbering beschreibt eine typische Szene. Die Tür geht auf und jemand ruft laut: „Kaffee mit zwei Löffeln Zucker und Milch!“ Kein Gruß, keine Ansprache. Die Ehrenamtlichen, sagt Marieke Grupe, „sind dann gesprungen. Jetzt sind wir Gastgeber, die helfen, vermitteln und natürlich auch einen Kaffee anbieten“. Menschen dürften sich gern verabreden oder Zeitung lesen. Wer aber nur auf kostenlosen Kaffee spekuliere, finde rund um den Bahnhof andere Möglichkeiten.

Wir konnten die Qualität spürbar steigern.

Grupe und Jürgenbering wünschen sich ein gemischtes Publikum. Dazu gehören Stammgäste, beispielsweise Wohnungslose, oder Menschen mit psychischen Erkrankungen. Es gibt die einsame Seniorin, die sich unterhalten möchte, die Mutter, die mit ihren kleinen Kindern den Anschlusszug verpasst hat, oder das ältere Ehepaar, das mit den modernen Fahrkartenautomaten nicht klarkommt. Marieke Grupe sagt: „Wir nehmen uns für alle Zeit. Erst gestern haben wir jemanden fünf Stunden lang beraten. Das wäre früher nicht möglich gewesen.“ Sie ist zufrieden. „Wir konnten die Qualität unserer Arbeit spürbar steigern.“

Marieke Grupe ist seit fast acht Jahren beim Verein für Innere Mission angestellt. Die Religionswissenschaftlerin arbeitete in der Geflüchtetenhilfe und leitete eine Übernachtungseinrichtung für Wohnungslose im Stadtteil Tenever, bevor sie zur Bahnhofsmission kam. Im ganz Kleinen Dinge bewegen, das macht ihr „unheimlich viel Spaß“. Sie sagt: „Ich begegne gerne Menschen und finde es toll, ihnen zu helfen, sich weiterzuentwickeln.“ Auch den Religions- und Familienpädagogen Jens Jürgenbering von der Caritas-Erziehungshilfe hat der „Mikrokosmos Bahnhof“ gereizt. Zumal die Bahnhofsmissionen zu den ältesten ökumenischen Projekten gehören.

Warum sind die Einrichtungen heute noch wichtig? Marieke Grupe denkt kurz nach. Für einen Vortrag hat sie mal farblich markiert, „was wir im Laufe von 125 Jahren alles gemacht haben und was heute noch zutrifft“. Ursprünglich taten sich christliche Frauen zusammen, um arbeitssuchenden Frauen und Mädchen zu helfen, in der Großstadt Fuß zu fassen. „Junge Frauen kommen bis heute zu uns, weil sie in irgendeiner Form Hilfe brauchen. Nicht mehr bei der Arbeitsvermittlung, aber sie sind immer noch da“, erklärt Grupe. Genauso wie Geflüchtete. Früher, nach dem Krieg, kamen sie aus den deutschen Ostgebieten, heute aus Syrien oder der Ukraine.

Es ist nicht einfach, hier zu arbeiten. 

„Menschen im Bahnhof, Menschen, die Orientierung suchen – das wird nie enden.“ Alle gesellschaftlichen Ereignisse, ob in der Stadt oder im gesamten Land, wirken sich direkt auf die Arbeit in der Bahnhofsmission aus. Beispiel Energiekrise: „Plötzlich kamen Besucher, die klagten, dass sie ihr Essen nicht mehr bezahlen können“, sagt Marieke Grupe.

Jemand hält eine Tasse mit dem Logo der Bahnhofsmission in der Hand
Kaffee gibt es nach wie vor in der Bremer Bahnhofsmission. Das rote Kreuz im Logo weist auf die evangelische Trägerschaft hin, der gelbe Streifen auf die katholische. Foto: Werner Krüper

21 Ehrenamtliche engagieren sich zurzeit in der Bremer Bahnhofsmission – von Anfang 20 bis Anfang 70, Schüler, Studenten, ehemalige Schulleiter, Krankenschwestern oder Finanzkaufleute, Christen, Muslime und Konfessionslose. Das freut Marike Grupe. Jung und Alt in festen Teams – das passe wunderbar. Zum Beispiel bei gemeinsamen Sonntagsdiensten. „Man kennt uns, das ist ein Vorteil.“ Andererseits sei vielen nicht bewusst, wie umfassend die Aufgaben sein können. Grupe und ihr Kollege Jürgenbering führen deshalb Kennenlerngespräche und schulen die Ehrenamtlichen. „Es ist nicht einfach, hier zu arbeiten“, sagt Grupe. „Wir leisten Hilfe zur Selbsthilfe, aber jeder Mensch entscheidet selbst, ob er sie annimmt. Wir drängen uns nicht auf. Das muss man akzeptieren.“ Und auch das gehört dazu: Grenzen setzen und bei aggressivem Verhalten Hausverbote aussprechen. „Im Notfall ist die Polizei schnell da“, sagt Jens Jürgenbering, kann aber beruhigen. Ein Hausverbot für längere Zeit komme vielleicht einmal im Jahr vor.

Einmal in der Woche versammeln sich Besucher zu einer kurzen Andacht. Der Raum der Stille, mit einem Kreuz an der Wand, aber auch offen für andere Religionen, ist eine leise Antwort auf die überwiegend laute Welt des Bahnhofs. Er lädt dazu ein, Hektik und Lärm der Großstadt für einen kurzen Moment hinter sich zu lassen. Erst vor wenigen Tagen, erzählt Marieke Grupe, habe eine muslimische Familie mit sechs Personen den Raum genutzt. „Sie mussten sich abwechseln, denn mehr als zwei Gebetsteppich passen nicht rein.“

Marieke Grupe und ihr Team begleiten so viele Menschen, dass sie oft nicht wissen, was aus ihnen wird. Aber manchmal passieren dann doch kleine Wunder. „Ein Mann, um den wir uns echt gesorgt hatten, kam eines Tages zur Tür herein. Er litt noch immer unter Depressionen, hatte aber keine Alkoholfahne mehr, sah nicht mehr schmutzig aus, sondern gepflegt, rasiert; die Haare waren geschnitten.“ Wenn jemand zurückkommt und sich für die Hilfe der Bahnhofsmission bedankt: „Das sind tolle Momente, das ist ein Dank für alles, was wir hier tun.“

Anja Sabel