Stadtmodelle von Egbert Broerken

Wenn Blinde sehen

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Verpackt steht es schon seit Wochen gegenüber dem Bischofshaus, in den nächsten Tagen wird es enthüllt: Ein Modell erläutert den Domhof auch für blinde Menschen. Ein Besuch bei seinem Schöpfer, Egbert Broerken.


Tasten, fühlen, erkennen. Mit den Stadtmodellen von Egbert Broerken haben auch blinde Menschen die Möglichkeit, sich einen Überblick über die Stadt zu verschaffen. | Fotos: Stefan Branahl

Wer sehen kann, der sehe. Und wer nicht sieht? Egbert Broerken kam ins Grübeln, als er vor etlichen Jahren blinde Kinder bei einer Stadtführung beobachtete. Sie versuchten, sich in in den Straßen zurecht zu finden, eine Vorstellung zu entwickeln, wie ihre Umgebung aussieht. „Damals entstand die Idee der Stadtmodelle für Blinde, inzwischen stehen sie in rund 150 Orten“, sagt Broerken. Und bald auch auf dem Hildesheimer Domhof.

Was verbirgt sich hinter dieser Geschichte? Wer das herausfinden will, muss ins westfälische Welver bei Soest fahren, genauer gesagt: in ein Wasserschloss. Es kann passieren, dass der Besucher gleich aktiv werden muss. „Im Kofferraum haben wir ein Modell, können Sie mal mit anpacken?“, begrüßt der Bildhauer den Gast. Mit vereinten Kräften schleppen wir Bingen am Rhein über ein paar sehr ungleichmäßig gehauene Stufen in den ersten Stock. So, einmal durchatmen, dann ist Zeit für ein Gespräch.

„Kirchen waren immer Mittelpunkt der Stadt“

Egbert Broerken sieht ganz anders aus, als sein Name vermuten lässt. Die weißen Haare fallen bis auf die Schulter, der Schnäuzer erinnert an Asterix. Wir begegnen einem typischen Vertreter der 68er-Generation, der Bücher schreiben könnte über seine Reisen in einem VW-Bus rund um die Welt. Der Mann hat Ahnung, er weiß, was er sagt, wenn er von Religion spricht. Und von den Kirchen. „Das war eine meiner interessantesten  Erfahrungen. Ich habe sie alle kennengelernt – als fantastische Bauwerke einer Stadt und als Symbol dafür, dass ohne Religion in Sachen Zusammenhalt nichts funktionieren würde.“ Broerken ist halt Müns­terländer und katholisch aufgewachsen – sozialisiert, würde man heute sagen. Aber nicht alles, was er in seinem Leben über Kirche und Glauben  gehört hat, überzeugt ihn. Trotzdem sind Kirchen für seine Arbeit wichtig: „Sie machen klar, dass sie immer Mittelpunkt der Städte gewesen sind.“
 


Egbert Broerken hat sich seine Stadtmodelle patentieren lassen.

Das trifft auch zu auf das Modell des Hildesheimer Doms. Egbert Broerken hat sich ihm mit Routine genähert, hat unzählige Fotos gemacht, hat die Höhenlinien aus Karten entnommen und auf Angaben des Katasteramtes zurückgegriffen. Alle Maße und Zahlen waren Grundlage für sein Modell, das er dann in Styrodur, einen Schaumstoff, geschnitzt hat. Immer wieder wurde es überprüft: Sind die Proportionen stimmig? Haben die Erläuterungen in Blindenschrift ihren richtigen Platz? Sind alle Straßenzüge, Plätze, Flussläufe, Grünanlagen korrekt dargestellt? Erst, wenn alles maßstabsgerecht ins Modell übertragen ist, wird ein Wachs–abguss erstellt. Damit lässt sich jedes Detail darstellen – egal, ob  filigrane Wiedergabe von Straßenzügen oder die Punkte der Braille-Schrift für blinde Menschen. Das Ganze wird zum Schluss mit Bronze ausgegossen und auf einen Sockel montiert. Seine Idee hat sich Egbert Broer­ken übrigens patentieren lassen. Wer also ein Blindenmodell in Deutschland sieht – ob in Lübeck, Halberstadt, Minden, Stralsund oder Burghausen –, hat sein Werk vor Augen oder eben im Sinne des Erfinders in den Fingerspitzen. Ausgerechnet in der Hildesheimer Innenstadt steht ein Modell, das nicht von ihm ist. Broerken sieht es mit einer Mischung aus Humor und Geschäftssinn: „Wenn ich Einspruch erhoben hätte, würde ich womöglich als Nörgler erscheinen. Also – Schwamm drüber.“

Demnächst geht es ganz anders in die Höhe

Aufträge hat der ehemalige Dozent an der Fachhochschule für Design in Dortmund ohnehin genug. Inzwischen sind seine Modelle auch international bekannt. Und der mögliche Auftrag aus Dubai wäre eine ganz andere Hausnummer als das Hildesheimer Modell – zumindest, was die Größenordnung angeht: 700 Meter ist das größte Gebäude der Welt – und das wäre selbst in dem von Broerken bevorzugten Maßstab 1:500 nicht zu realisieren. „Selbst wenn ich um das Doppelte verkleinere, wäre der Komplex 70 Zentimeter hoch. Kein Vergleich zu den paar Zentimetern des Hildesheimer Doms.“

Bleibt noch eine Frage: Herr Broerken, könnten Sie sich vorstellen, selbst blind zu sein? „Manchmal probiere ich es aus, wenn ich mich in dunklen Räumen orientiere. Technisch wäre es kein Problem. Aber es ist trotzdem eine schreckliche Vorstellung.“

Stefan Branahl