Psychologisches Handbuch für Seelsorger

Wenn die Seele krank ist

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Bei ihrer Arbeit werden Seelsorger immer wieder mit psychischen Erkrankungen konfrontiert. Sie merken: Irgendetwas stimmt hier nicht. Oft können sie die Symptome aber nicht einordnen. Ein neues Buch hilft, den richtigen Rat zu geben.

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Behutsam nachfragen: Hat ein Seelsorger den Verdacht, dass jemand seelisch krank ist, muss er das Thema vorsichtig ansprechen. Foto: kna


Vor einigen Wochen ist es Pfarrer Schmidt zum ersten Mal aufgefallen: Frau Rethmann fehlt immer öfter bei den Sitzungen des Kirchenvorstands. Dabei ist sie sonst sehr gewissenhaft. Auch im Gottesdienst sieht er sie seltener. Sie ist dünn geworden und sieht blass aus. „Da passt etwas nicht“, ahnt Pfarrer Schmidt.  

Frau Rethmann und Pfarrer Schmidt gibt es nicht – ihre Geschichte aber kann so oder so ähnlichen in vielen Pfarrgemeinden passieren. „Seelsorger geraten nicht selten in solche Situationen“, sagt Jochen Sautermeister, der als Moraltheologe an der Universität Bonn lehrt und über mehr als zehn Jahre auch als Psychologe in der Ehe-, Familien- und Lebensberatung tätig war. „Sie ahnen, dass etwas nicht stimmt, wissen es aber nicht einzuordnen.“ Gemeinsam mit dem Psychiater Tobias Skuban hat Sautermeister das „Handbuch psychiatrisches Grundwissen in der Seelsorge“ herausgegeben, das Priestern, Diakonen und Pastoralreferentinnen und -referenten sowie anderen hauptamtlichen pastoralen Mitarbeitern eine Hilfestellung geben soll. 

Das Buch bietet erstmals eine übersichtliche Zusammenstellung der häufigsten psychischen Erkrankungen, so aufbereitet, dass die Seelsorger in einem Gespräch mit einem Erkrankten die richtigen Tipps und Hinweise geben können. „10 bis 15 Prozent der Bevölkerung leiden akut unter leib-seelischen Erkrankungen“, sagt Sautermeister. „Da kann man leicht hochrechnen, wie oft ein Priester oder Diakon damit konfrontiert wird.“ Gerade in Kirchengemeinden würden sich Menschen häufig akzeptierter fühlen, die es sonst in der Gesellschaft schwerer haben. „Sie öffnen sich vielleicht eher gegenüber einem Seelsorger als gegenüber ihrem Hausarzt“, sagt Sautermeister.

Frau Rethmann überlegt, ob sie Pfarrer Schmidt ansprechen soll. Sie vertraut ihm und schätzt seine ruhige und gelassene Art. Seinen Rat könnte sie gut gebrauchen, denn sie sorgt sich sehr um ihren Mann. Der zieht sich immer weiter zurück, verlässt kaum noch das Haus. An den letzten gemeinsamen Ausflug mit ihm und den Kindern kann sie sich kaum erinnern. Doch wie soll sie Pfarrer Schmidt darauf ansprechen?

„Es gibt diejenigen, die so unter Druck stehen und bei denen das Problem schon so drängend geworden ist, dass es direkt aus ihnen herausbricht, weil sie nicht mehr weiterwissen“, sagt Jochen Sautermeister. Noch größer sei allerdings die Gruppe, die erst einmal vorsichtige Andeutungen mache. „Ich habe da ein Problem und komme nicht weiter“; oder: „Im Moment fällt mir das richtig schwer“, hören die Seelsorger dann oft. „Die  Menschen testen und achten meist genau auf die Reaktion, weil Betroffene von psychischen Erkrankungen in unserer Gesellschaft immer noch relativ stark stigmatisiert sind“, sagt Jochen Sautermeister. Wichtig sei es dann, ein Signal zu senden, dass man das Problem erkannt hat, und vorsichtig nachzuhaken: Zum Beispiel: „Ich habe den Eindruck, Sie sind in letzter Zeit so niedergeschlagen. Ich mache mir Sorgen um Sie.“

Pfarrer Schmidt freut sich, als Frau Rethmann ihn um ein Gespräch bittet. Sie erzählt ihm vom plötzlichen Tod ihrer Schwiegermutter und dass ihr Mann sich seitdem zurückgezogen hat. Zuerst habe sie ihn unterstützt und ihm den Rücken freigehalten. Aber so könne es jetzt einfach nicht mehr weitergehen. Immer häufiger streiten sie.

Häufig sind es die Angehörigen, die zuerst Kontakt suchen. „Öfters ist es so, dass die Ehepartner, Eltern, Kinder oder Nahestehende sich melden und Rat suchen, weil sie einen Punkt erreicht haben, an dem sie nicht mehr weiterkommen“, sagt Sautermeister. 

Das Handbuch hilft Seelsorgern in einer solchen Situation: Zum einen vermittelt es theoretisches Grundwissen und gibt eine erste Orientierung. Dabei zeigt es auch die Grenzen der  Seelsorge auf. „Immer dann, wenn es um professionelle Hilfe, psychologische Beratung oder therapeutisches Handeln geht, sollte ein Seelsorger an einen Facharzt oder geschultes Personal verweisen. Sonst besteht etwa die Gefahr, Retraumatisierungen hervorzurufen und die Situation der Betroffenen zu verschlimmern“, sagt Sautermeister.

Zum anderen gibt das Handbuch praktische Tipps zu den häufigsten Erkrankungen wie Depression, Erschöpfung, Essstörung und Suchtkrankheiten. Die Autoren erklären Begriffe, listen Symptome, Risikofaktoren und Ursachen auf, erläutern die Diagnostik und bereiten die Seelsorger so vor, dass sie im Gespräch die Erkrankten über Therapiemöglichkeiten informieren können. Außerdem gibt das Buch Hinweise, wie man am besten ein Gespräch führt und inwieweit eigene Erfahrungen eingebracht werden dürfen.

Frau Rethmann ist erleichtert. Das Gespräch mit Pfarrer Schmidt hat ihr gutgetan. Er hat ihr zugehört und ihre Sorgen ernst genommen, und er hat ihr erklärt, dass es auch für ihren Mann schwierig und schmerzhaft ist, wenn er sich unter Druck gesetzt und unverstanden fühlt. Pfarrer Schmidt hat ihr den Tipp gegeben, sich ernsthaft mit ihrem Mann über seine Ängste zu unterhalten – ohne ihm Vorwürfe zu machen. Außerdem hat er ihr Adressen und Telefonnummern von Ärzten und Beratungsstellen mitgegeben, an die sie sich wenden kann.

Kerstin Ostendorf


Jochen Sautermeister, Tobias Skuban (Hrsg.): Handbuch psychiatrisches Grundwissen für die Seelsorge, Verlag Herder, 752 Seiten, 68 Euro.